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Spione kuesst man nicht

Spione kuesst man nicht

Titel: Spione kuesst man nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ally Carter
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Mutter zu trösten, aber ich konnte die Frau heraushören, die ich in der vergangenen Nacht gesehen hatte – ich konnte die Gefühle dieser Frau spüren, von denen ich vierundzwanzig Stunden zuvor nichts bemerkt hatte. Jetzt wusste ich, dass es solche Gefühle gab, und ich würde für den Rest meines Lebens darauf achten.
    »Bex …«, murmelte ich.
    »Wir haben gerade von ihr gesprochen, Cam«, sagte Mom. »Wir wissen nicht, was wir tun sollen.«
    Man kann von Spionen halten, was man will, aber eins ist klar: Sie machen keine halben Sachen. Unsere Lügen haben Sozialversicherungs-Nummern und gefälschte Ausweise, und unsere Wahrheiten sind stahlhart. Ich wusste, was meine Mutter sagte. Ich wusste, warum sie es riskierte, es mir zu sagen. Die Gallagher Akademie war aus Stein gebaut, aber solche Nachrichten konnten sie so schnell in Schutt und Asche legen, als wäre sie aus Zeitungspapier und mit Benzin gestrichen.
    »Cam« – Mom saß auf der Kante des Couchtischs vor mir – »das ist natürlich früher auch schon passiert, aber jeder Fall ist anders, und du kennst Bex besser als alle anderen –«
    »Sagt ihr nichts.« Die Worte überraschten selbst mich. Ich weiß, wir sollen hart, zäh und auf alles vorbereitet sein, aber ich wollte nicht, dass sie es erfuhr, nur weil wir zu schwach waren, das Geheimnis allein mit uns herumzutragen. Ich sah meine Mutter wieder an, dachte daran, wie langsam manche Wunden heilten, und wusste, zum Trauern gäbe es noch Zeit genug.
    Bex’ Vater war Tausende von Kilometern entfernt, aber es gab immer noch die Hoffnung, ihn wiederzusehen. Wer war ich, sie ihr so früh zu nehmen? Was hätte ich für ein paar Stunden mehr Hoffnung gegeben?
    »Hey«, sagte Macey hinter mir, und ich bereute sofort, ihr den schmalen alten Korridor gezeigt und ihr gesagt zu haben, dass es ein super Ort zum Lernen war. »Das hat aber jetzt hoffentlich nichts mit einem Typen zu tun.«
    Sie ließ ihren Bücherstapel neben mir fallen, aber ich konnte sie nicht ansehen. Ich saß nur da und wischte mir die Tränen weg, die ich lautlos um Bex’ Vater vergoss. Die Tränen, die ich um meinen Vater weinte, schluckte ich. Es verging viel Zeit, vielleicht ein Jahrtausend oder so, bis Macey mich mit dem Knie anstupste und sagte: »Sprich!«
    Egal, was man von Macey hält – eines muss man ihr zugestehen: Sie redet nicht um den heißen Brei herum. Eine Top-Spionin hätte Macey belogen. Und dabei gut gelogen! Aber ich brachte es nicht fertig. Vielleicht lag es am Stress. Vielleicht war es Kummer. Vielleicht PMS. Aber irgendwas zwang mich, hochzuschauen und zu sagen: »Der Vater von Bex wird vermisst. Vielleicht ist er tot.«
    Macey setzte sich neben mich. »Das kannst du ihr nicht sagen.«
    »Ich weiß.« Dann schnäuzte ich mich.
    »Wann wissen sie was Genaues?«
    »Keine Ahnung.« Ich wusste ja wirklich absolut gar nichts. »Es kann noch Tage dauern. Vielleicht Monate. Er hat seinen Führungsoffizier nicht angerufen. Wenn er sich meldet, dann –«
    »Wir können es ihr nicht sagen.«
    Natürlich nicht. Aber irgendetwas ließ mich aufhorchen. Ich sah sie an. Ich überlegte – zum ersten Mal hatte ich »wir« gehört. Es gab Dinge, die ich meiner Mutter nicht sagen konnte, Dinge, die ich meinem Freund nicht sagen konnte, und Dinge, die ich meinen Freundinnen nicht sagen konnte. Aber hier, neben Macey McHenry, wurde mir zum ersten Mal klar, dass jemand meine Geheimnisse kannte, dass ich nicht völlig allein war.
    Macey stand auf und wollte gehen. »Cammie, nichts für ungut …« Wenn jemand wie Macey McHenry »nichts für ungut« sagt, ist es nahezu unmöglich für jemanden wie mich, nicht beleidigt zu sein, aber ich gab mir Mühe. »Geh da jetzt nicht rauf. Du siehst schrecklich aus, das würde sie ganz sicher merken.«
    Ich war nicht beleidigt. Ich war richtig froh, dass sie es gesagt hatte, weil es stimmte. Es wäre mir selber wahrscheinlich nicht aufgefallen.
    Macey entfernte sich, und ich saß noch lange einfach nur da. Ich dachte an die Zeit, als mein Vater mit mir in den Zirkus gegangen war. Zwei Stunden lang saßen wir nebeneinander, sahen den Clowns zu und klatschten, als der Löwenbändiger kam. Aber am deutlichsten erinnerte ich mich an den Mann, der fünfzehn Meter über der Erde auf einem Drahtseil balancierte. Bis er das andere Ende erreicht hatte, waren noch fünf Leute auf seine Schultern geklettert, aber ich beobachtete ihn nicht – ich war viel zu beschäftigt damit, meinen Vater

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