Spione kuesst man nicht
läuft.
»Ich wette, du hast gedacht, ich hätte es vergessen«, neckte er mich und zog mich so fest in die Arme, dass er mir fast die Knochen brach.
»Oh, ähm … ja?«
»DeeDee hat mir beim Aussuchen geholfen.« Er nahm den Deckel ab und holte die zierlichsten silbernen Ohrringe aus der Schachtel, die ich je gesehen hatte. (Notiz an mich: Ohrlöcher stechen lassen.) »Ich dachte, sie passen zu deiner Kette – du weißt schon, die silberne mit dem Kreuz.«
»Genau«, sagte ich verdattert. »Ich weiß, welche du meinst.«
Die Ohrringe glitzerten in der Nacht, und ich konnte sie immer nur wie hypnotisiert bewundern und denken, dass kein Mädchen jemals einen netteren Freund hatte und kein Mädchen ihn so wenig verdient hatte wie ich.
Ich hatte das Gefühl, mich von außen zu betrachten, auf mich herunterzuschauen und mich zu fragen: Wer ist das Mädchen? Weiß sie nicht, welches Glück sie hat? Merkt sie nicht, dass sie wunderschöne Ohrringe hat, die zu ihrer Kette passen, und einen Jungen, der an so etwas denkt? Wieso macht sie sich eigentlich Sorgen um Quantenphysik, chemische Wirkstoffeoder NSA-Codes? Weiß sie denn nicht, dass dies einer der seltenen Augenblicke im Leben ist, wo alles stimmt und gut und wundervoll ist?
Weiß sie nicht, dass solche Augenblicke immer vorbeigehen?
W ährend ich durch die geheimen Gänge schlich, schienen meine Gedanken in der Enge widerzuhallen: Ich hab doch gar nicht Geburtstag!
Ich wollte, dass die nagenden Zweifel verschwanden. Ich hatte Ohrringe bekommen, oder nicht? Spielte es eine Rolle, warum er sie mir geschenkt hatte? Ein normales Mädchen wird wütend, wenn ihr Freund ihren Geburtstag vergisst. Hatte ein falscher Geburtstag nicht eher Bonuspunkte verdient? Ich hätte ihm die Punkte gutschreiben sollen, falls er irgendwann einmal etwas anderes vergisst – in zwanzig Jahren vielleicht unseren Hochzeitstag –, und dann könnte ich sagen: »Mach dir nichts draus, mein Schatz. Weißt du noch? Du hast mir früher mal Ohrringe geschenkt, obwohl ich gar nicht Geburtstag hatte? Jetzt sind wir quitt.«
Eben! Es war nicht mein Geburtstag.
Plötzlich fiel mir ein, dass ich Josh im Park, als er mich mit Fragen bombardierte, gesagt hatte, ich hätte am neunzehnten November Geburtstag. Ich wusste nicht, was ernüchternderwar, dass er sich daran erinnert hatte oder dass ich es vergessen hatte.
Die leeren Gänge schienen sich in alle möglichen Richtungen zu winden. Ich war müde, ich wollte mich duschen und mit meinen Freundinnen reden. Deshalb schlief ich schon fast, als ich mich an den alten Steinsims lehnte, der den riesigen Kamin im Aufenthaltsraum im zweiten Stock umrahmte. In knapp zwei Wochen würde mir der Kamin nicht mehr als Durchgang dienen, es sei denn, ich würde bei meinen Dates mit Josh einen von Dr. Fibs’ feuerfesten Schutzanzügen tragen (in denen sogar Bex dick aussieht). Also bediente ich den Hebel ein letztes Mal und erwartete, dass sich der Steinrahmen teilte. Dabei stieß ich aus Versehen an einen alten Fackelhalter, der nach unten rutschte, wobei sich eine weitere verborgene Tür öffnete, hinter der sich eine Abzweigung des Durchgangs befand. Davon hatte ich bisher nichts geahnt.
Ich weiß auch nicht, warum ich diesem Gang folgte – Spion-Gene oder Neugier –, aber bald ging ich den Korridor entlang und wusste nicht, wo ich war, bis ich auf dünne Lichtstreifen stieß. Ich blieb stehen, um durch Ritzen in den Geschichtssaal zu spähen, in dem sich Gillys glänzendes Schwert befand.
Plötzlich hörte ich jemanden schluchzen.
Etwas weiter den Gang entlang fand ich das Büro meiner Mutter und die Bücherregale, die sich gedreht hatten, um die Erinnerungsstücke der Schulleiterin eines Eliteinternats zu zeigen. Ich lehnte mich dagegen, guckte durch einen Spalt im Putz und beobachtete, wie meine Mutter weinte. Ich hätte auf einen Schalter drücken können, das Bücherregal hätte sich gedreht und mich mitgenommen. Aber ich stand in dem engen, muffigen Raum nur da und konnte mich nicht abwenden.
Sie war allein im Büro und hatte sich auf ihrem Stuhl zusammengerollt. Als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie getanzt und gelacht, und jetzt liefen ihr Tränen über das Gesicht. Ich wollte sie in den Arm nehmen, damit wir zusammen weinen könnten. Ich wollte ihre salzigen Tränen auf meiner Wange spüren. Ich wollte ihr über die Haare streichen und sagen, dass ich auch müde war. Aber ich blieb an meinem Platz und schaute zu. Mir war
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