Spione kuesst man nicht
als die Angestellte näher kam. »Mein Inhaliergerät muss aufgefüllt werden.«
»Ja, natürlich, meine Liebe.« Die Frau nahm Anna einen Zettel aus der Hand. »Lass mich mal nachsehen. Es dauert nur eine Minute.«
Ich war bereits vom Hocker gerutscht und kauerte hinter einem Stapel Windeln für Erwachsene, als mir bewusst wurde, dass ich mir weiter nichts zuschulden kommen ließ, als kurz nach dem Mittagessen einen Schokoeisbecher zu vertilgen – und lasst mich eins klarstellen: Anna hat mich schon eine Menge mehr essen gesehen (da fällt mir zum Beispiel ein Vorfall mit Doritos, Sprühkäse und der Winterolympiade ein). Also beschloss ich, zu ihr zu gehen und »hi« zu sagen, als ich etwas hörte, das mich erstarren ließ.
Die Glöckchen läuteten wieder, und ich linste durch die Regale. Dillon und eine Meute anderer Jungs, die ich in der Scheune gesehen hatte, kamen herein. Aber sie gingen nicht an den Regalen entlang. Nein, sie hatten bereits gefunden, was sie suchten.
»Hey, kenn ich dich?«, fragte Dillon, aber er redete nicht mit mir. Es war schlimmer. Er redete mit Anna, und es war auch keine harmlose Frage. Dafür waren seine Worte zu scharf undsein Ton zu gemein, als er nah an die kleine Anna heranrückte und zischte: »Nein, warte, du gehst ja nicht auf meine Schule!« Im Spiegel über der Bar beobachtete ich, wie er Anna an die Regale presste. »Wetten, dass du auf die Gallagher Akademie gehst?«
Anna drückte ihre Tasche an die Brust, als ob sie Angst hätte, er könnte sie schnappen und damit weglaufen. »Was für eine hübsche Tasche«, sagte Dillon. »Hat dein Daddy sie dir gekauft?«
Annas Dad ist Biologielehrer der achten Klasse in Dayton, Ohio, aber Dillon wusste das nicht, und Anna konnte es ihm nicht sagen. Sie klammerte sich an ihre Tarnidentität wie ich mich an meine.
Die Typen, die um Dillon herumstanden, fingen an zu lachen. Und plötzlich fiel mir ein, warum Gallagher Girls und Jungs aus der Stadt nichts miteinander zu tun haben sollen.
Anna stolperte rückwärts, weil sie trotz eines fast dreieinhalbjährigen Trainings in S+V keiner Fliege etwas zuleide tun kann. Die Stadt war voller Gallagher Girls, aber Dillon und seine Freunde mussten ausgerechnet die kleine Anna finden. Das war kein Zufall. Anna war allein und schwach, weshalb jemand wie Dillon darauf aus war, sie von der Herde zu trennen.
»Ich wollte –« Anna versuchte zu sprechen, aber ihre Stimme konnte nur flüstern.
»Was?«, fragte Dillon. »Ich hab nichts verstanden.«
»Ich …«, stotterte Anna.
Ich wollte zu ihr, aber ich war wie versteinert – zur Hälfte ihre Freundin und zur Hälfte ein Mädchen, das zu Hause unterrichtet wurde und eine Katze namens Suzie hatte. Wenn ich nur die eine und nicht die andere gewesen wäre, hätte ichdazwischenfahren können, stattdessen sagte ich mir ununterbrochen: Sie ist okay, sie ist okay, sie ist –
»Was ist los? Bringen sie euch nicht das Reden bei?«, fragte Dillon, und ich hätte alles dafür gegeben, wenn Anna auf Arabisch, Japanisch oder Farsi zurückgegiftet hätte, aber sie machte nur noch einen Schritt nach hinten. Ihr Ellbogen traf eine Schachtel mit Heftpflastern, die auf der Regalkante schwankte.
Anna näherte sich langsam der Tür und murmelte: »Ich komm später wieder und hol –«
Aber ein paar von Dillons Freunden stellten sich ihr in den Weg und bildeten eine Wand aus knallroten Blousons. Ich konnte Anna nicht mehr sehen.
Sie ist okay , sagte ich mir wieder und wollte unbedingt, dass es stimmte. Und genau in diesem Augenblick klingelten die Glöckchen an der Tür, und herein marschierte Macey McHenry.
»Hey, Anna.« Soweit ich weiß, hat Macey noch nie mehr als zwei Worte mit Anna Fetterman gesprochen, aber als sie durch die Tür kam, war ihre Stimme hell und fröhlich, und Macey klang, als ob sie Annas allerbeste Freundin wäre. »Was ist denn hier los?«
Die vier Jungs rückten von Anna ab – vielleicht, weil Macey auf ihrem Kaugummi herumschmatzte und dann eine Blase in Dillons Gesicht platzen ließ. Vielleicht auch, weil sie noch nie ein so schönes Mädchen vor sich gesehen hatten. Aber Dillon ließ nicht locker.
»Oh«, sagte er hochnäsig und musterte Maceys tolle Figur. »Sie hat eine Freundin.«
Anna sah Macey an und schien zu erwarten, dass ihre Mitschülerin sagte: Wer, ich? Ich bin nicht ihre Freundin. Aber Maceyfuhr mit dem Finger an den Regalen entlang und reichte Anna ein Röhrchen mit Vitamin C. »Die solltest du
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