Spionin in eignener Sache
ein Freund. Tu so, als hätten wir uns gerade kennengelernt und du hättest beschlossen, dich mir anzuver-trauen, weil ich so ein verständnisvolles Gesicht habe.«
»Du hast wirklich ein verständnisvolles Gesicht und ich nicht die leiseste Ahnung, wovon ich überhaupt rede, also wird uns dein verständnisvolles Gesicht auch nicht weiterhelfen. Ich wollte wohl bloß sagen, daß ich mir eigentlich nicht viel aus Sex mache, noch nicht mal daran denke. Er gibt einem nur die Möglichkeit, nicht über andere Dinge nachzudenken. Das allgemeine Unzufriedenheitsgefühl, das man hat. Du weißt schon, was ich meine.«
Reed lächelte. »Das sagen meine Studenten auch immer: Sie wissen schon, was ich meine. Und mit Vorliebe sagen sie es, wenn son-nenklar ist, daß ich es nicht weiß und sie selbst wahrscheinlich ebensowenig.«
»Aber in diesem Fall weißt du, was ich meine: daß es nichts mit dir zu tun hat und basta. Ich bin einfach mit mir selbst nicht im reinen. Zum Teufel mit mir! Erzähl mir von dem Projekt, das du an der 27
Schuyler übernimmst.«
Reed sah sie lange an. Dann begann er: »Wie wir neulich schon feststellten, kam das Angebot, dieses Projekt zu leiten, gerade im rechten Moment. Blair Whitson, ein junger Juraprofessor – der, mit dem du das Rechts- und Literaturwissenschaftsseminar halten wirst –
, hat sich offenbar zu einem kleinen Revolutionär entwickelt. Als ich ihn kennenlernte, war er das jedenfalls nicht. Er schlug mir vor, das Projekt an der Schuyler zu übernehmen, und ich sah darin eine will-kommene Abwechslung. Kurz davor hatte ich den Dekan und einige andere Leute an meiner Uni angesprochen, um sie zu bewegen, ein Häftlingsbetreuungsprojekt einzurichten, vielleicht in Verbindung mit einem Projekt für geschlagene Frauen. Aber meine erlauchte Institution kann es wohl nicht mit ihrem Elitebewußtsein vereinba-ren, dergleichen zu unterstützen. Vielleicht wollten sie auch einfach kein weiteres Projekt, zumindest keins, das ich als ordentlicher Professor leite. Jedenfalls lehnten sie meinen Vorschlag ab. Deshalb war mir das Angebot der Schuyler doppelt willkommen: Ich helfe einem Freund und erlebe ein neues Abenteuer – hört sich an wie ein Wer-bespot.«
Kate lächelte ermutigend.
»An der juristischen Fakultät der Schuyler«, fuhr Reed fort,
»wird es also demnächst unter meiner Leitung ein Projekt zur Betreuung Strafgefangener geben. Es soll denjenigen helfen, die berechtigte Zweifel an ihrer Verurteilung oder ihrem Strafmaß haben; außerdem Häftlingen, die sich über Mißhandlung durch das Gefängnispersonal beschweren, und solchen, die zu Unrecht in Haft sind oder es zumindest glauben.«
»Wieso zu Unrecht?«
»Dafür kann es viele Gründe geben. Leute ohne die amerikanische Staatsbürgerschaft zum Beispiel, die ihre Strafe abgesessen haben und festgehalten werden, weil sie illegal eingewandert sind und nicht in ihre Heimatländer abgeschoben werden können. Dann gibt es die vielen Frauen, die Hilfe brauchen. Manche haben ihre schlagenden Männer umgebracht und wurden verurteilt, ehe das Geschlagene-Frauen-Syndrom anerkannt wurde, oder weil ihre An-wälte nie davon gehört hatten.«
»Was du vorhast, klingt zweifellos edler als meine Vermischung von Rechts- und Literaturwissenschaft. Was brachte deinen Freund Blair denn bloß auf den Gedanken, das sei eine gute Idee?«
»Ich war es, der ihn dazu überredet hat, denn während deines 28
Freisemesters geht es dir, wie mir aufgefallen ist, viel besser, wenn du eine zwar nicht überfordernde, aber regelmäßige Verpflichtung hast. Ihn zu überreden, war allerdings nicht schwer. An vielen Universitäten gibt es inzwischen solche interdisziplinären Seminare.
Außerdem bin ich davon überzeugt, daß du es interessant finden wirst, neue Blickwinkel kennenzulernen. Wann willst du dich mit Blair über euer Seminar unterhalten?«
»In den nächsten Tagen. Ich habe ihm eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen und er eine auf meinem. Reed, nicht daß ich es allzu wichtig nehme, aber findest du es nicht auch etwas sonderbar, daß wir beide unser Freisemester an der schlechtesten Law School New Yorks, ja vielleicht der schlechtesten in den ganzen Vereinigten Staaten verbringen?«
»Es ist nicht die schlechteste der Vereinigten Staaten, auch wenn sie vielleicht nicht zu der Sorte gehört, die wir bewundern. Viele Studenten an Universitäten wie der Schuyler sind schon älter, Männer und Frauen, meist Frauen, die aus den
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