Spionin in eignener Sache
verschiedensten Berufen an die Universität zurückgekehrt sind, weil sie mit ihrem bisherigen Leben nicht mehr zufrieden waren und beschlossen, Juristen zu werden. Solche Studenten sind oft sehr interessiert, sehr ernsthaft und hochmotiviert. Sei kein so verdammter Snob, meine Liebe.«
Als sie spät am Abend in ihre Wohnung zurückkehrten, gut ge-sättigt und in erheblich besserer Stimmung als sie es, einzeln oder getrennt, seit geraumer Zeit gewesen waren und Reed die Tür auf-schloß, blieben beide vor Schreck wie angewurzelt stehen. Im Flur ihrer Wohnung saß eine alte Frau und strickte in aller Ruhe an einem langen, wolligen Gebilde.
Reed (wie Kate ihm später vorwarf) machte unwillkürlich einen Schritt nach vorn und stellte sich vor sie. Aber Kate hatte sich schon von dem Adrenalinstoß erholt, der, nachdem er weder Angstschreie noch Fluchtinstinkte ausgelöst hatte – was ja eigentlich seine Aufgabe war – so schnell wieder abflaute wie er aufgestiegen war.
»Das ist die Frau vom Theban, von der ich dir erzählt habe«, er-klärte Kate.
»Wie, zum Teufel, sind Sie hier hereingekommen?« schrie Reed die Frau an, ganz und gar nicht in seiner üblichen höflichen Art. Die Frau hatte ihm einen schlimmen Schreck versetzt.
»Problemlos«, erwiderte sie. »Ich beweise eben gern, daß ich jedes Apartmenthaus ausrauben kann.«
»Warum?«
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»Warum was?«
»Warum wollen Sie das beweisen?«
»Um zu demonstrieren, daß ich unsichtbar bin. Das ist der Punkt, verstehen Sie. Als ältere Frau bin ich unsichtbar und kann hingehen, wohin ich will, wie die Feen im Märchen.«
»Aha«, knurrte Reed. »Und heute abend haben Sie sich also unsichtbar gemacht und sind wie die Geister im Kino durch geschlos-sene Türen geschlüpft. Aber Sie sind kein Geist, oder doch?«
»Beinahe. Doch diesmal habe ich nicht auf meine Unsichtbarkeit gesetzt, sondern mich herkömmlicher Mittel bedient, meiner Überredungskunst gegenüber Ihrem Pförtner nämlich, den ich gleichzeitig von drei Dingen überzeugte: daß ich harmlos bin, völlig erschöpft und außerdem Ihre Tante.« Die letzten Worte waren an Reed gerichtet.
»Sie sind nicht alt genug, meine Tante zu sein«, konstatierte Reed, nicht eben logisch. Kate hatte nach nur einer Begegnung mit der Frau bereits festgestellt, wie schwierig es war, in ihrer Gegenwart logisch zu bleiben.
»Wir beide stammen aus einer großen Familie, in der ich die jüngste und Ihr Vater der älteste war. Wie ich dem Pförtner erklärte, käme ich nicht oft nach New York, und Sie hätten wahrscheinlich die Nachricht von meiner geänderten Ankunftszeit auf Ihrem Anrufbeantworter nicht abgehört. Jedenfalls sei ich völlig erschöpft von der Reise.«
»Mein Vater?« fragte Reed.
»Na ja, ich sagte, mein Name sei Amhearst, also muß mein Bruder Ihr Vater sein. Aber keine Angst, ich werde nicht auf unsere Verwandtschaft pochen. Ich wollte bloß meine Theorie und mein Geschick beweisen. Natürlich vertraute ich auf die Tatsache, daß Sie Ihre umfangreiche Familie nicht mit dem Pförtner erörtert haben.
Und auch dazu gehört ein gewisses Maß an Scharfsinn, das müssen Sie doch zugeben.«
Reed gab sich einen Ruck. »Kommen Sie ins Wohnzimmer. Aber tun Sie mir das bitte nicht noch mal an. Übrigens wäre es ja jetzt kein Kunststück mehr, da der Pförtner Sie für meine Tante hält.«
»Versprochen.«
Sie gingen ins Wohnzimmer, wo Kate der Frau einen Drink anbot. Sie bat um einen Maltwhisky. Reed und Kate schlossen sich ihr an, und die Frau ließ sich in einem Sessel nieder.
»Abgesehen davon, daß ich Ihnen meine Kunststücke vorführen 30
wollte«, sagte sie, »hatte ich noch einen anderen Grund, Sie aufzusuchen. Wirklich hervorragend, der Whisky«, unterbrach sie sich und schnalzte genießerisch mit der Zunge, wie neulich im Theban, als sie Kates Drink probierte. »Ich hielt den Zeitpunkt für gekommen, Ihnen zu gestehen, daß ich nicht ganz ehrlich war, was meine Stellung an der Schuyler betrifft.«
Reed und Kate starrten sie immer noch an, als fürchteten sie, die Frau könne sich in Luft auflösen, sowie man sie aus dem Auge ließ.
»Den Job habe ich mir unter Vorspiegelung falscher Tatsachen erschlichen. Was natürlich nicht heißt, daß ich ihn nicht zu aller Zufriedenheit ausführe. Aber ich bin nicht die, für die man mich dort hält. Ich habe mir Referenzen, Sozialversicherungsausweis, Lebens-lauf und so weiter von einer Bekannten geliehen, die sich nach Nova Scotia zurückgezogen
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