Spittelmarkt
von den beiden den Mythos vom neuen Menschen besser für sich zu nutzen versteht. Die Nationalsozialisten werden in dieser Hinsicht für kompetenter gehalten. Hast du einmal etwas vom Germanenorden gehört?«
»Sind das nicht die Leute, die von Richard Wagners Schwiegersohn Chamberlain die Idee der Heranzüchtung einer arischen Herrenrasse übernommen haben? Warum fragst du?«
»Es gibt da eine Geheimgesellschaft, die eine Art Ableger des Germanenordens ist. Diese Gesellschaft existiert sozusagen ganz in meiner Nähe, aber ich musste erst nach Amerika fahren, um davon zu erfahren.«
»Amerika?«
»Wir haben uns lange nicht gesehen, Judith. In der Zwischenzeit ist viel passiert. Ja, ich war in Amerika. Es ging alles so schnell, dass ich vor meiner Abreise gar keine Zeit mehr fand, dir davon zu berichten.«
»Wo warst du denn?«
»In New York! Es war eine merkwürdige Reise. Ich wollte dir ja schon davon erzählen.«
»Na, dann schieß mal los!«
Es war das erste Mal, dass ich offen und freimütig zu jemandem über die wichtigsten Erlebnisse und Begebenheiten meiner Reise sprechen konnte. Sowie ich mit meiner Schilderung fertig war, fühlte ich mich erleichtert, zumindest halbwegs in Worte gefasst zu haben, was an Eindrücken auf meiner Seele lag.
»Und du denkst wirklich, dass die Ehefrau deines Mandanten ermordet worden ist?«, erkundigte sich Judith in ehrlichem Erstaunen. »Aber warum denn? Was hat diese Florence denn verraten? Oder was könnte sie verraten? Davon hast du mir noch nichts erzählt!«
»Das weiß ich eben nicht! Mein Gespräch mit Florence war nur von kurzer Dauer. Immerhin hatte sie dieses Dokument an sich gebracht, von dem ich sprach. Das könnte als Beweis für ihren Verrat aufgefasst worden sein – obwohl sich mir die herausragende Bedeutung dieses Schriftstücks nicht erschließt.«
»Wegen dieses Dokuments hat man sie bestimmt nicht umgebracht.«
»Wenn ich herausbekommen will, weshalb Florence sterben musste, bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als dieser Gesellschaft für eine Zeit lang beizutreten.«
Judith pfiff leise durch die Zähne. »Willst du das wirklich? Ich würde mir das gut überlegen! Wenn du dich dem Einfluss einer obskuren Sekte aussetzt, begibst du dich in die Gefahr, von ihr aufgesogen zu werden. Du magst noch so überzeugt davon sein, es könnte dir nicht passieren.«
»Ich bin diesem Einfluss ohnehin schon ausgesetzt. Diese Leute, zu denen nicht nur mein Sozius Haller, sondern auch meine Schwester Doris gehören, wollen irgendetwas von mir. Sie beginnen bereits, einen vorsichtigen Druck auf mich auszuüben. Ein zu entschiedener Widerstand gegen diesen Druck könnte sogar schädlich für mich sein. Ich kann nicht einfach Nein zu ihren Avancen sagen.«
»Doris gehört zu ihnen? Umso mehr muss ich mich wundern, dass es dich in diese Gesellschaft zieht! Hast du mir nicht erzählt, dass du mit ihr praktisch gebrochen hast – oder sie mit dir! Was willst du in einem Klub, in dem du regelmäßig auf deine ungeliebte Schwester triffst?«
»Ach Judith, alte familiäre Bande sind nicht einfach zu durchtrennen.«
Judith machte ein nachdenkliches Gesicht. »Da fällt mir ein, dass du mir wenig über deine Familie erzählt hast.«
»Weißt du, ich spreche nicht so gern darüber.«
»Versuch es trotzdem.«
»Was willst du denn hören?«
»Zum Beispiel, wer deine, Pardon, wer eure Eltern waren.«
»Mein Vater kam aus Breslau zum Studium der Rechtswissenschaften nach Berlin, wo er nach dem Examen eine Anstellung bei einer großen Berliner Versicherungsanstalt fand. Im Jahre 1890 heiratete er die schöne Tochter eines Wilmersdorfer Kaufmanns, dessen einziges Kind sie war. Zwei Jahre später wurde ich geboren, zwei weitere Jahre danach kam Doris zur Welt. Wir verbrachten eine glückliche Kindheit – bis zu jenem schrecklichen Tag im August 1904, wo zwei Züge der Berliner Stadtbahn zusammenstießen und mehr als 20 Fahrgäste den Tod fanden; darunter auch der Vater und die Mutter, die sich gerade auf dem Weg zu einem Besuch bei Freunden befanden.«
Judith nickte. »Und von da an wart ihr beide, du und Doris, praktisch auf euch allein gestellt?«
»Der Breslauer Bruder meines Vaters erklärte sich bereit, uns aufzunehmen, aber Doris und ich wollten lieber in Berlin bleiben, wo ich das Werner-von-Siemens-Gymnasium und Doris die Königin-Luise-Schule besuchte. Deshalb kamen wir in das Vinzenz-von-Paul-Haus, eine katholisch geführte Einrichtung für
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