Spittelmarkt
Internatszöglinge und Waisen. Und dort, ja, dort begegneten wir einem Gymnasialprofessor namens Oskar Behrend. Er war eine Art geistiger Beistand für die in dem Haus lebenden Schüler, und er rief eine okkult gefärbte Gemeinschaft ins Leben, der auch Doris und ich angehörten. Bestimmte Ereignisse am Ende meiner Schulzeit haben jedoch dazu geführt, dass die Verehrung, die ich dem Mann mehrere Jahre lang entgegenbrachte, in Ablehnung umschlug. Doris teilte meine Haltung nicht. Das hat uns einander entfremdet. Wie ich inzwischen erfahren habe, ist jener Mann, Oskar Behrend, später Mitbegründer und geheimer Vorsitzender der ›Gesellschaft der Brüder und Schwestern vom Licht‹ geworden – derselben Gesellschaft, der auch mein Sozius Haller angehört. Seltsam, nicht wahr?«
»Ja, oder auch nicht! Hattest du all die Jahre zu den Leuten keine Verbindung?«
»Zu Doris nur sporadisch, zu Behrend gar nicht. Es kam der Weltkrieg und ich verbrachte die Jahre im Feld. Ende 1918 kehrte ich nach Berlin zurück und setzte das Jurastudium fort, das ich auf Ratschlag meines schlesischen Onkels im Jahr 1911 aufgenommen hatte. Nachdem ich es im Jahr 1922 erfolgreich abgeschlossen hatte, verhalfen mir die Beziehungen meines Breslauer Onkels zu einer Anstellung in einer Berliner Anwaltskanzlei. Ohne es zu wissen, habe ich 1926, als mich Haller für seine Kanzlei anwarb, an die alten Verbindungen wieder angeknüpft.«
»So schließt sich der Kreis. Aber warum willst du dich einfangen lassen? Oder möchtest du die eigene Geschichte aufarbeiten?«
»Es geht um mein Verhältnis zu Doris. Bis Behrend in unser Leben trat, haben meine Schwester und ich uns nahe gestanden. Aus heutiger Sicht müsste ich wohl sagen: Unsere Vergangenheit ist ungeklärt. Mit ihrem Ehemann verstehe ich mich übrigens ganz gut. Ihm ist es zu verdanken, dass nicht völlige Funkstille zwischen uns eingetreten ist.«
»Pass gut auf, dass du nicht auf Abwege gerätst, Eugen. Was du vorhast, ist gefährlich. Hast du etwas über diese Frau – diese Irene – herausgefunden?«
»Im Adressbuch von Groß-Berlin existiert ihr Name nicht. Wahrscheinlich ist Varo der Künstlername einer Varietéartistin. Immerhin könnten auch andere sie unter diesem Namen kennen; es soll sogar etwas über sie in der Berliner Illustrierten gestanden haben und zwar im Zusammenhang mit dem berühmten Schauspieler Gustav Helmholtz, der angeblich wegen ihr seine Frau verlassen hat. Du hast doch Beziehungen! Kannst du dich nicht einmal in der Redaktion umhören?«
»Mal sehen! Ich schreibe mir den Namen dieser Frau einmal auf.« Sie griff in ihre Tasche und entnahm ihr Stift und Zettel.
Als wir uns kurz darauf trennten, versprach Judith, sich bezüglich des Ergebnisses ihrer Nachforschungen, die sie wegen Irene Varo anstellen wollte, in ein paar Tagen bei mir zu melden.
Danach hörte ich eine Woche lang nichts von ihr. Als sie mich schließlich anrief, konnte sie mir nur mitteilen, dass sie alle ihre Verbindungen hätte spielen lassen, um etwas über Irene Varo herauszubekommen, doch niemand aus ihrem weit gefächerten Bekanntenkreis hätte den Namen jemals gehört. Auch über eine Geliebte des Schauspielers Gustav Helmholtz sei in den Kreisen, die es hätten wissen müssen, nichts bekannt, selbst bei der Berliner Illustrierten nicht. Die Dreharbeiten, zu denen Helmholtz nach Hollywood gereist war, seien auf mehrere Monate angelegt. Seine Frau habe ihn aus familiären Gründen nicht begleiten können, von Schwierigkeiten in seiner Ehe wüsste man nichts.
Ich dankte Judith für ihre Bemühungen und legte auf.
Merkwürdig, dass niemand die Geliebte von Helmholtz kannte! Frau von Tryska, meine treue Mitreisende auf der ›Bremen‹, hatte mir von dem Verhältnis zwischen dem Schauspieler und der Artistin berichtet; sie selbst hatte durch eine Mitreisende davon erfahren. Natürlich war auf solche Informationen nicht allzu viel zu geben; sie entstammten dem üblichen Tratsch, wie er sich auch an Bord eines Schiffes verbreitete, wenn man einen bekannten Mann in der Begleitung einer schönen Frau erblickte, und die vermeintliche Zeitungsquelle mochte in Wahrheit die Erfindung einer wichtigtuerischen Zeitgenossin sein. Andererseits hatte es geheißen, dass sie Varietéartistin war! Selbst wenn der Name Irene Varo ein Künstlername war oder sie ihn sich nur für die Reise zugelegt hatte, so konnte sie keine völlig Unbekannte sein! Doch wo sollte ich nach ihr suchen, wenn ich nicht einmal
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