Spittelmarkt
ihren Namen sicher wusste? Helmholtz, der noch für geraume Zeit außerhalb Deutschlands weilen würde, kam für derartige Auskünfte nicht in Betracht. Nachdem mir auch Judith mit ihren erstklassigen Beziehungen nicht weiterhelfen konnte, hatte ich das Gefühl, mit meinem Latein am Ende zu sein.
So vergingen mehrere Tage; bis mir der Zufall in Gestalt einer Anzeige in der Tageszeitung zu Hilfe kam. Darin wurde für eine Dichterlesung geworben, die am folgenden Samstagnachmittag bei Karstadt am Hermannplatz stattfinden sollte, und der Dichter, der die Lesung halten würde, war kein Geringerer als Heinrich Mann.
13
Mit seinem in die Länge gezogenen Gesicht glich der bekannte Autor den Filmfiguren, wie sie der Zuschauer im Kino von den Seitensitzen aus sah. Leicht erhöht saß er im saalartigen Durchgang von den Nahrungsmitteln zur Konfektion hinter einem extra für ihn errichteten Pult. Während er mit pointierter, vertrauenerweckender Stimme einen Boxkampf aus seinem jüngsten Roman vorlas, rieselte Grammofonmusik aus einer Ecke des Warenhauses herüber. Passend dazu fuhren jenseits der Glaswände hinter ihm Kaufhausbesucher auf einer Rolltreppe in eine tiefer gelegene Einkaufsetage hinab, so stumm und automatisch wie Schießbudenfiguren.
Am Ende der Vorlesestunde beantwortete der Literat höflich die Fragen, die ihm die Zuhörer stellten. Langsam zerstreuten sich die Leute, nur ich blieb so lange in der Nähe des Ausgangs stehen, bis sich Heinrich Mann selbst anschickte, den Ort der Veranstaltung zu verlassen.
»Bitte keine Fragen mehr!«, sagte der Dichter, als ich herantrat. »Ich habe gleich eine andere Verabredung.«
»Es ist nur eine Bitte im Hinblick auf eine gemeinsame Bekannte. Sie sind Schriftsteller! Gewiss haben Sie eine gute Erinnerung.«
Heinrich Mann zog die Augenbrauen hoch und schaute mich an. »An wen soll ich mich erinnern?«
»An eine wunderschöne Varietéartistin.«
Sein langes Gesicht verzog sich zu einem vorsichtigen Lächeln. »Solche Erinnerungen sind mir die liebsten. Wie heißt denn die Dame?«
Seine Sprechweise war leicht näselnd, aber scharf. Er betonte jede Silbe mit affektierter Präzision.
»Als ich sie vor einigen Wochen kennenlernte, nannte sie sich Irene Varo.«
Er legte die Stirn in Falten.
»Nein«, antwortete er, »diese Dame kenne ich nicht.«
»Sie könnten sie unter einem anderen Namen gekannt haben! Wenn man ihr einmal begegnet, vergisst man sie nicht mehr. Ihre Schönheit ist von einer Vollkommenheit, wie man sie unter Menschen selten findet. Hilft Ihnen dieser Hinweis vielleicht, sich zu erinnern?«
Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, und er blickte zu der Uhr an seinem Handgelenk.
»So außerordentlich schön? Ich muss jetzt tatsächlich an eine Frau denken, die Irene hieß und Varietékünstlerin war – Irene Olden. Könnte sie unsere gemeinsame Bekannte sein? Was ist denn aus ihr geworden?«
»Ich begegnete ihr auf einem Schiff«, sagte ich. »Das Schiff fuhr nach Amerika.«
Heinrich Mann starrte mich eine Weile stumm an. »Ich bin überrascht!«, rief er dann aus. »Ist sie ausgewandert – für immer fort?« Doch als ob er eine Antwort nicht hören wollte, blickte er wieder in Richtung des Ausgangs, als sehnte er sich danach, das Kaufhaus zu verlassen.
»Wir begegneten uns, da war sie auf dem Weg zu Filmaufnahmen in Hollywood. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass sie wieder nach Berlin zurückgekehrt ist. Kennen Sie ihre hiesige Anschrift – oder auch eine ältere Adresse?«
Heinrich Mann schüttelte langsam den Kopf. »Damit kann ich Ihnen nicht dienen. Es ist schon sehr lange her, dass ich diese Dame kannte. Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann.«
»Warten Sie bitte!«, sagte ich, da er sich zum Weitergehen wandte. »Ein paar einfache Auskünfte könnten mir bereits helfen. Mir sind auf der Überfahrt nach Amerika einige seltsame Dinge passiert.«
Die Haltung, die er einnahm, signalisierte mir, dass er aufmerksam geworden war.
»Was Sie sagen, klingt reichlich dunkel«, antwortete er leise.
»Mir liegt sehr daran, das Dunkel zu lichten!«, gab ich zurück. »Es gibt nichts, was ich im Augenblick nötiger hätte.«
Heinrich Mann lächelte sanft. »Ihre Worte klingen, als hätten Sie Angst?«
»Es ist mehr so, dass ich denke, ich hätte allen Anlass, Angst zu haben.«
»Das ist das Gleiche«, warf der Dichter ein, »wir leben in einer Zeit, in der jeder Grund dazu hat, Angst zu haben – nur merken es die meisten
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