Spittelmarkt
zu bewegen vermochten. Der Held der Geschichte findet schließlich heraus, dass die Vril-ya von einer mächtigen arischen Großfamilie abstammen, die über zahlreiche Linien alle dominierenden Kulturen der oberen Welt hervorbrachten, und dass sie es als ihr vorherbestimmtes Schicksal ansehen, eines Tages aus den Abgründen dieser Erde wieder ans Tageslicht emporzukommen, um dann – so seine Befürchtung – die existierende Vielfalt des Menschengeschlechts zu zerstören und selbst an dessen Stelle zu treten. Angesichts dieser beängstigenden Aussichten beginnt er, Pläne für seine Flucht aus der unterirdischen Welt zu schmieden, und findet schließlich mithilfe der Tochter seines Gastgebers zum Tunnelausgang und in die Oberwelt zurück.
Das Buch war eigentlich nicht besonders spannend, ja, fast ein wenig langweilig geschrieben, trotzdem hatte mich der Text derart gefesselt, dass ich ihn in einem Zug zu Ende las. Während ich darüber nachdachte, worauf dieser Effekt beruhte, fiel mir auf, dass der Handlungsaufbau den berechtigten Erwartungen an eine erfundene Geschichte überhaupt nicht entsprach. Vielmehr erweckte er den Eindruck, als handle es sich nicht um eine Fiktion, sondern um einen persönlichen Erlebnisbericht.
Den letzten Teil des Buches hatte ich im Bett gelesen. Ich löschte die Nachttischlampe und war noch nicht ganz eingeschlafen, da schreckte ich hoch.
Das grüne Licht! Na klar! Die Erinnerung an jenes eigentümliche Erlebnis in dem unheimlichen New Yorker Apartmenthaus, wo ich in die Tiefe hinabgestiegen und dennoch nirgendwo angelangt war, hatte mich elektrisiert. Auf dem Weg die Treppe hinunter, das wusste ich ganz sicher, hatte ich ein diffuses grünes Licht gesehen, genau so ein Licht, wie es dem Erzähler im Roman begegnet war, als er das Tor zur Unterwelt entdeckte! Auch ich hatte sie vielleicht gesehen, diese Unterwelt. Der Gedanke daran ließ mein Herz jagen.
Waren die geheimen Durchgänge in ein anderes Reich bereits geöffnet, die anderen etwa – wenngleich unerkannt – längst unter uns? War dies der Umstand, auf den mich Arnheim hatte hinweisen wollen, indem er mir die Lektüre dieses merkwürdigen Buches empfahl?
Ich musste an den Unbekannten denken, der sich mit Irene und Florence zu einem Liebesspiel mit tödlichem Ausgang getroffen hatte. Zudem konnte ich nicht verhindern, dass mich bei dem eigentlich ja völlig unsinnigen Gedanken, dieser Mann könne den Untiefen des New Yorker Erdreichs entstiegen und auf dem Weg zu seiner Verabredung an mir vorüber geschlichen sein, ein mulmiges Gefühl ergriff, das mich eine geraume Zeit nicht mehr zur Ruhe kommen ließ.
12
Das Ergebnis der Reichstagswahlen vom 6. November brachte eine Überraschung. Entgegen einer vielerorts verbreiteten Befürchtung gelang es den alten Parteien noch einmal, ihre Stellung zu behaupten; die Nationalsozialisten hingegen verloren zwei Millionen Stimmen und 34 Mandate.
Ein paar Tage später traf ich mich mit Judith Singer, einer Freundin jüdischer Herkunft, zum Mittagessen in einem Lokal Unter den Linden. Seit einer kurzen Affäre vor mehreren Jahren waren wir miteinander befreundet. Da auch sie nicht verheiratet war, taten wir einander bisweilen den Gefallen, uns gegenseitig zu begleiten, wenn es eine Einladung wahrzunehmen galt, die sie oder ich allein nicht besuchen wollte.
Judith arbeitete als Kolumnistin bei einer Berliner Tageszeitung. Ihre Tätigkeit brachte es mit sich, dass sie eine gute Wahrnehmungsfähigkeit für die unter der Oberfläche des gesellschaftlichen Lebens verborgenen Verbindungen besaß. Einflussreiche Leute aus Politik und Wirtschaft und sogar ausländische Gesandte gehörten zu ihrem Bekanntenkreis.
Ihre großen, dunkelblau schillernden Augen spiegelten Entschlossenheit und ungewöhnlichen Ehrgeiz wider. Ihr goldenes Haar war nicht gefärbt und umrahmte ein ebenmäßiges Gesicht. Mit dem Bild, das die Nationalsozialisten von den Angehörigen der jüdischen Rasse zeichneten, hatte ihre Erscheinung nicht das Geringste gemein.
»Hast du schon die Ähnlichkeit zwischen den Nationalsozialisten und den Kommunisten bemerkt?«, fragte sie mich. »Die Argumente sind so gleichartig, dass man stets den Schluss abwarten muss, um zu sehen, ob die erhobene Hand offen oder geballt ist.«
»Sie wollen beide den neuen Menschen. Ich erinnere mich, einmal gehört zu haben, dass Lenin und Ludendorff derselben Sekte angehörten und beide Schüler von Gurdjieff waren. Bleibt nur die Frage, wer
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