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Spittelmarkt

Spittelmarkt

Titel: Spittelmarkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernwald Schneider
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Holzschild oberhalb des Kreuzes geschrieben war: ›Erlöse mich!‹ Die nackte Priesterin, von der ich bereits wusste, dass sie eine geschickte Artistin war, hatte den Speer beiseite gelegt und das Kreuz erklommen, die langen Beine um die Hüften des Gekreuzigten geschwungen, und hielt sich mit den Händen an den Querbalken fest, was ein wenig nach Klimmzügen aussah. Das dritte Foto war von der Seite aufgenommen. An den Gesichtern war allzu deutlich zu erkennen, dass sich die Akteure im Zustand absoluter sexueller Ekstase befanden.
    Das Ganze war äußerst bizarr, doch es war mehr als das!
    Objektiv mochten die Fotos blasphemisch sein, aber die Wirkung der Bilder war eine ganz andere. Vielleicht lag es einfach nur an der Schönheit der beiden Darsteller, an der Anmut ihrer Umarmung oder auch daran, dass die Darbietung wirkte, als sei sie von einem Ambiente des Geheimnisses umweht, weshalb die provokante Szenerie keine negative oder gar abstoßende Stimmung schuf. Irgendwie passten die Fotos sogar in die Tradition von Dürers düsterem Reiter, denn der Ritter schien seine Rüstung abgelegt zu haben und war in die gefährlichen Tiefen des dunklen Eros hinabgestiegen, dessen Schatten die erotische Ausstrahlung der beiden Schönen so machtvoll durchsetzte.
    Besonders das erste Foto in der Reihe, auf dem die beiden Liebenden getrennt voneinander zu sehen waren, war von einer ungeheuer anziehenden und bizarren Komposition, sodass es mir beinahe wie ein meisterliches Kunstwerk vorkam. In der Darstellung lag bei all dem Monströsen auch eine seltsame Unaufgeregtheit, eine Stille, die sowohl in der Hingabe des Mannes als auch in der Haltung der Frau zum Ausdruck kam, so als seien sie von den umgebenden Zuschauern durch ein unsichtbares magisches Kleid geschützt. Je länger ich die Szene betrachtete, um so mehr war mir, als ob die eigenwillige Kreuzigungsszene noch für irgendetwas anderes, nicht Sichtbares stand. Der gekreuzigte Mensch war das Symbol der Erlösung, und ich begriff, dass es genau darum auch in der betrachteten Darstellung ging: um Umkehr, um Religion, um die absolute Konzentration sexueller Energien und um deren Umlenkung vom Äußeren weg, hinein in das Innere des Menschen zum Zwecke der Erleuchtung.
    Ich sah mir den Mann auf dem Foto noch einmal genauer an: Eine solche langgliedrige männliche Schönheit, die durch diesen Hauch von Androgynie erst ihre Perfektion fand, so wie umgekehrt im Knabenhaften auch die Vollendung der weiblichen Schönheit Irenes begründet lag, war in dieser Perfektion nicht häufig zu finden. Allein durch diese Gemeinsamkeit wurde mir die körperliche Verwandtschaft der beiden Akteure überdeutlich.
    Ich legte die Fotos beiseite, nahm das zusammengefaltete Papier zur Hand.
    Es war nur ein einziges Blatt, das eine Liste von ungefähr 20 Namen enthielt, die in alphabetischer Reihenfolge angeordnet waren, wobei manche Nachnamen doppelt erschienen. Im unteren Bereich unter dem Buchstaben O, worauf mein Auge zuerst fiel, standen die Namen ›Olden, Irene‹ und darunter ›Olden, Roland‹.
    Meine Augen wanderten höher und da, wo das G seine Einordnung fand, las ich: ›Goltz, Doris‹ und darunter ›Goltz, Eugen‹.
    Ich fuhr zurück und ließ das Schreiben wie ein Stück glühend heiße Kohle auf die Schreibtischplatte fallen. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, erhob ich mich von dem Stuhl und drehte dem Schreibtisch den Rücken zu.
    Ich blickte auf den geharnischten Ritter an der Wand, auf Dürers Symbol des so hoffnungslos wie unbeirrt Suchenden und spürte mit einem Mal den Schrecken in mir auflodern, der mich schon so lange unerkannt begleitete. Plötzlich wusste ich, dass ich das letzte Glied einer Kette sein sollte, einer Entwicklung, an deren Ende sich etwas Abgrundtiefes auftun würde.
    Mir war, als ob ich auf die Spur einer sinistren Verschwörung geraten war, auf die widerliche Fährte einer gefährlichen Schlange, die sich durch ganz Berlin, durch ganz Deutschland, ja, und höchstwahrscheinlich noch weit darüber hinaus wand. Eine unheimliche, schreckliche Wahrheit lag irgendwo hinter diesen Windungen verborgen, in einem bösartigen Dunkel, einem tückischen, undurchsichtigen Nebelfeld, das wie ein dicker, fetter Schleier über einem löcherigen Abgrund lag. Wie in einer Vision konnte ich bereits die Schatten sehen, verborgene Gestalten, die eilend und jagend, zupackend und wieder verschwindend über den Vorhang des alltäglichen Lebens huschten, lautlos und still,

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