Spittelmarkt
unheimlich und bedrohlich, um bald darauf wieder in das abgründige Dunkel zu verschwinden, dem sie entstammten.
Warum waren Doris und ich auf dieser Liste? Was verband ausgerechnet Doris und mich mit diesem Paar? Und wer hatte all die anderen Namen auf die Liste gesetzt?
War ich Irene und Roland Olden zu einem früheren, möglicherweise sehr frühen Zeitpunkt meines Lebens schon einmal begegnet? Vielleicht in der Schule oder im Internat oder bei einer anderen Gelegenheit in meiner Jugendzeit? Es erschien mir unwahrscheinlich, denn abgesehen davon, dass man ein Mädchen wie Irene Varo nicht vergaß, waren die beiden Oldens auch mehr als zehn Jahre jünger als Doris und ich, sodass wir nicht zur gleichen Zeit das Internat besucht haben konnten.
Die Bilder meiner Kindheit standen mir plötzlich vor Augen; da waren die Mutter, der Vater, meine Schwester Doris – und auf einmal merkte ich, dass sich meine Augen mit Tränen füllten. Hilfe suchend starrte ich auf den einsamen Ritter an der Wand, fühlte mich elend, verzweifelt und ganz und gar mit ihm verbunden.
Warum nur, dachte ich, hatte alles so kommen müssen, wie es gekommen war? Da waren so viele Dinge, die ich hinter mir gelassen zu haben glaubte; Dinge, über die ich am liebsten gar nicht mehr nachdenken wollte. Doch nun war klar, dass ich es nicht vermeiden konnte, mich zu erinnern.
Ich studierte erneut die Namen auf der Liste.
Die weiteren Namen waren mir allesamt unbekannt. Sechs davon gab es zweimal. Waren es Ehepaare – oder, und das war wohl wahrscheinlicher, ebenfalls Geschwister?
Ich nahm einen Bleistift aus der Tasche, suchte nach einem Zettel, und nachdem ich ein weißes Stück Papier gefunden hatte, schrieb ich die Namen in der gleichen Reihenfolge ab, wie sie auf der Liste notiert waren; anschließend steckte ich alles, was ich betrachtet hatte, die Fotos und das Blatt mit der Namensliste, in den Umschlag zurück und deponierte diesen wieder in dem Geheimfach des Sekretärs.
Ich verließ die Wohnung und zog hinter mir die Tür ins Schloss. Draußen im Hof spielten keine Kinder mehr. Es war kalt geworden und der Sprühregen hatte sich aufs Straßenpflaster gelegt. Durch den nächtlichen Trauerflor dämmerten die Laternenlichter in der kühlfeuchten Nacht, warfen schemenhafte Spiegelbilder auf den nassen Boden. Stumm und gelassen blickten die dunklen Gemäuer mich an, warnende Vorboten eines finsteren Spätherbstes und eines unausweichlichen Eiswinters.
15
Eines war sicher: Wenn es eine Verbindung zu den Oldens gab, dann hatte Oskar Behrend etwas damit zu tun. Nur in seiner Einflusssphäre konnte es biografische Überschneidungen der Geschwister Goltz und Olden geben.
Doris musste der Schlüssel zu alledem sein, und weil ihr Geburtstag Anfang Dezember einen passenden Anlass bot, unternahm ich einen Ausflug in die Charité, wo sie eine leitende Stelle in der Klinikverwaltung innehatte. Ich wünschte ihr alles Gute und verabredete mich mit ihr für den übernächsten Abend auf ein Glas Wein in ihrer Wohnung unweit des Krankenhauses in der Hannoverschen Straße.
Doris hatte die 40 fast erreicht, unterschied sich jedoch sehr von den vielen vorzeitig gealterten Frauen ihrer Altersgruppe. Denn wer es nicht besser wusste, hätte sie allenfalls auf Mitte 30 geschätzt. Dass sie für jünger gehalten wurde, war ein Schicksal, das sie mit mir teilte; eine andere Ähnlichkeit zwischen uns hatte lange in unser beider Unfähigkeit bestanden, uns dauerhaft an einen Partner zu binden. Während meine Ehe mit Vera, einer jungen Angestellten der Kanzlei, wo ich früher gearbeitet hatte, nach nicht einmal zwei Jahren gescheitert war, befand sich Doris nun bereits seit drei oder vier Jahren in festen Händen, was keiner, der sie und ihre früher häufig wechselnden Liebschaften kannte, je für möglich gehalten hätte. Sie hatte Rudolf Mantiss geheiratet, einen ehemaligen Reichswehroffizier und heutigen Schriftsteller, der mindestens 15 Jahre älter war, und alles in allem recht gut zu ihr passte. Seit ihrer Eheschließung wirkte sie ausgeglichener als in früheren Jahren und die vormals unterschwellige Aggressivität mir gegenüber hatte sich nahezu verflüchtigt.
»Ich habe schon von deiner Reise gehört«, sagte sie, während sie mir ein Glas Rotwein einschenkte, »es ist wirklich bedauerlich, dass Florence gestorben ist. Sie hätte eben nicht nach New York gehen sollen. Sie war zu lange aus Amerika fort und hatte dort keine Freunde mehr.«
Sie sah noch
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