Spittelmarkt
übernächsten Abend anrief, Trude Hesterberg war. Die Anruferin nannte ihren Namen nicht, bezog sich jedoch auf mein Gespräch mit Heinrich Mann, um mir mitzuteilen, dass sie zwar nicht wüsste, wo Irene Varo zu finden sei, dass diese allerdings einen Bruder namens Roland Olden hätte, dessen Anschrift sie mir nannte. »Und dort«, fügte sie hinzu, »finden Sie möglicherweise auch die Schwester.«
Die Adresse, welche die unbekannte Anruferin weitergegeben hatte, lag in dem Viertel längs der Potsdamer Straße. Eine Wohnung in einem der zahlreichen Hinterhäuser Berlins, die wie so oft auch hier vorwiegend von Menschen aus dem Arbeitermilieu bewohnt wurden.
Ich schritt durch dunkle Innenhöfe, in denen die Dämmerung an diesem Novembertag zur Nachmittagsstunde begann. Einige zu leicht bekleidete Kinder spielten in den Höfen, vertrieben sich die Zeit, bis sie in die engen Behausungen eingelassen würden, zu denen die armseligen Fenster gehörten, in denen trotz der einsetzenden Dämmerung noch keine Lichter brannten. Ich gelangte in ein finsteres Treppenhaus, in dem ein alter, auf einer Leiter stehender Mann gerade dabei war, die ausgebrannte Glühbirne einer schmucklosen Lampe zu erneuern.
Der Mann hörte mich und blickte zu mir herab. Ich grüßte ihn knapp und wandte mich der Tafel zu, auf der die Namen sämtlicher Wohnungsinhaber verzeichnet waren.
»Wen suchen Sie denn?«, fragte der Alte, während ich dabei war, die Tafel zu studieren.
»Ich möchte zu Herrn Olden«, sagte ich und entdeckte im selben Moment den Namen ganz oben in der äußersten rechten Reihe.
Der Alte drehte die Glühbirne fest und stieg von der Leiter. Unten angekommen, legte er einen Schalter um, und endlich fiel Licht von der Decke herab in das schmale Treppenhaus.
Langsam drehte er sich zu mir herum. Er war groß und hager, die Gestalt leicht gebeugt. Mit hängenden Armen und ausdruckslosen Augen stand er zwei Schritte vor mir und starrte mich mit ungläubigem Gesichtsausdruck an.
»Was wollen Sie denn von dem?«
»Wissen Sie, ob er zu Hause ist?«
Der Alte antwortete nicht sofort, sondern rückte umständlich die Leiter ein Stück zu Seite. »Er ist schon lange nicht mehr zu Hause gewesen«, teilte er mir dann mit. »Er ist auf Tournee.«
»Auf Tournee? Was hat er für einen Beruf?«
»Er hat Auftritte, mehr weiß ich nicht. Deshalb ist er häufig fort. Und wenn er da ist, zumeist nur am Tage. An den Abenden ist er fort.«
»Wohnt er allein?«, quetschte ich den Alten aus.
Er blickte mich stumm an, als hätte ihn die Frage komplett überfordert.
»Es ist niemand zu Hause«, wiederholte er.
»Es wohnt demzufolge eine zweite Person in seiner Wohnung?«
In der Ferne gab es Geräusche, Stimmen, die aus der einen oder anderen Wohnung drangen, doch das änderte nichts daran, dass plötzlich eine beinahe unwirkliche Stille das Treppenhaus beherrschte.
»Hat der Hausbesitzer Sie geschickt?«, fragte der Alte mit argwöhnischem Blick.
»Beantworten Sie bitte meine Frage!«
»Wollen Sie hier Ärger machen?«
»Nicht, solange Sie mir gegenüber aufrichtig sind. Ich bin beauftragt, nach dem Rechten zu sehen. Also: Wer wohnt dort oben noch?«
»Niemand sonst«, gab der Alte wortkarg zurück.
»Das stimmt nicht! Ich habe etwas anderes gehört.«
»Von wem denn?«
»Das tut nichts zur Sache.«
»Es gibt keinen Grund, sich aufzuregen«, sagte der Alte leise und in einem Tonfall, als wollte er einlenken. »Ich will keinen Ärger hier im Haus. Ich bin auf den Hauswartsposten angewiesen; die Miete könnte ich sonst nicht bezahlen.« Seine Stimme wurde leiser. »Es ist bloß seine Schwester, die gelegentlich bei ihm übernachtet.«
»Wann ist sie denn eingezogen?«
Er zuckte die Achseln. »So vor etwa einem halben Jahr.«
»Sie hätten es dem Hausbesitzer melden müssen!«
»Ich dachte, es wäre nicht so wichtig«, murmelte der Alte, »eigentlich ist sie nur eine Besucherin. Auch sie habe ich schon lange nicht mehr gesehen.«
»Die anderen Mieter mögen es nicht, wenn ein Mieter Dauergäste hat. Ist sie wirklich nur die Schwester?«
Er zuckte die Achseln. »Was kümmert es mich, wer sie wirklich ist?«
»Wie sieht die Dame denn aus?«
»Oh, ich habe sie wirklich nur ganz selten gesehen, aber«, er unterbrach sich, um anerkennend zu nicken, »sie ist wunderschön.«
»Jedenfalls muss alles seine Ordnung haben!«, erwiderte ich wieder schärfer. »Sie sehen das viel zu lasch! Aber gut – wenn die beiden häufig abwesend
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