Spittelmarkt
mich zu den Personen in der Politik«, warf ich ein. »Dieser selbst ernannte Erlöser, wie Sie ihn nennen – ist er wirklich so bedeutend? Für mich hat er weder etwas von einem Erlöser noch von einem falschen Messias. Mit seiner auftrumpfenden Art kommt er mir vor wie eine Gestalt aus einem der Bücher von Karl May, wie einer von den Schurken.«
»Hinter dem Auftreten dieses Mannes verbergen sich mehr als Folklore oder Prahlerei«, sagte Wolfrath. »Kaum jemand durchschaut ihn. In Wahrheit ist er ein Mann, den fast niemand wirklich kennt.«
»Es wundert mich, dass Sie sagen, es würde ihn niemand kennen«, warf Judith ein, »wo er doch seine Überzeugungen so laut herausschreit, dass man sie gar nicht überhören kann!«
»Das Geschrei ist nur eine Tarnung!«, konterte Wolfrath. »Seine öffentlichen Reden sind einstudierte Posen, die er einsetzt, um anderes zu verdecken! Er ist bei allem, was er tut, darauf bedacht, dass ihn die große Masse nicht durchschaut! Und er täuscht seine Anhänger genauso wie seine Gegner!« Er berührte mit der rechten Hand den Bügel seiner Brille und rückte sie gerade. »Sie haben natürlich nicht ganz unrecht – er sagt durchaus, was er denkt; allerdings tut er es in so geschickter Weise, dass man einfach nicht ernst nehmen mag, was er sagt. Es bestätigt sich in seinem Fall einmal mehr der Satz, dass der offen ausgesprochenen Wahrheit am wenigsten Glauben geschenkt wird.«
»Ich habe bisher viele seiner Anhänger für gefährlicher gehalten als ihn selbst«, sagte Judith. »Mir schien, dass er im Fall von Pogromen mäßigend auf seine Leute Einfluss nehmen könnte.«
»Er ist geschickt darin, den Harmlosen zu spielen«, bestätigte Wolfrath. »Er beherrscht das Mittel der Verstellung so gut wie kaum ein Zweiter. Die Leute haben alle eine Meinung über ihn, ohne ihn zu kennen. Diejenigen, die nicht seine Anhänger sind, halten ihn zwar für unsympathisch, aber auch für harmlos. Dabei ist er weder das eine noch das andere. Seine Gefährlichkeit wird in hanebüchener Weise unterschätzt.«
»Sie meinen«, sagte Judith, »er zeigt nicht sein wahres Gesicht?«
»Er hätte nicht solchen Erfolg, wenn er es nicht verstünde, sein wahres Gesicht zu verbergen«, antwortete der Doktor. »Es ist bezeichnend, dass kaum jemand weiß, wie er wirklich aussieht. Der Mann ist unglaublich kamerascheu, und er weiß natürlich, warum. Er will nicht durchschaut werden und trägt daher viele Masken. Sein Freund Heinrich Hoffmann ist der Einzige, der ihn fotografieren darf. Und selbst Hoffmann ist es nicht gestattet, Schnappschüsse zu machen, die nicht gestellt sind. Hitler hat sämtliche Posen, die er die Welt sehen lassen will, sorgfältig eingeübt und perfektioniert. Und diese Verstellung funktioniert. Es existieren tatsächlich nur ganz wenige nicht autorisierte Schnappschüsse von Hitler. Seine Leibwächter sind in dieser Hinsicht gut trainiert. Wenn tatsächlich einmal ein zufälliger Passant zum Fotoapparat greift, um ihn abzulichten, können Sie sicher sein, dass seine Begleitung es bemerkt und dem Betreffenden die Kamera entreißt, um den Film zu zerstören.«
Judith war nachdenklich geworden. »Was sein wahres Gesicht angeht, bestätigen Sie meinen Eindruck, dass der Mann nur aus Masken besteht und keinen eigenen Wesenskern besitzt.«
»Oh, er besitzt durchaus einen Wesenskern«, widersprach Wolfrath. »Und er besitzt auch ein wahres Gesicht. Ich habe sogar ein Foto von diesem Gesicht, eines der wenigen, die es gibt! Ein befreundeter Journalist, der zu unserem Kreis gehört, hat es gemacht. Einen Abzug trage ich gerade bei mir. Vielleicht möchten Sie ihn sehen?«
Er griff in die Innentasche seiner Jacke und legte dann eine vergrößerte Fotoaufnahme vor uns auf den Tisch.
Judith und ich beugten uns über das Bild.
»Er war ausnahmsweise einmal nicht auf der Hut«, sagte Wolfrath, »deshalb ist das Foto so authentisch.«
An einem Gartentisch unter einem schattigen Laubbaum – es war wahrscheinlich der Biergarten eines Lokals – stand Hitler mit zwei anderen Männern in ein Gespräch vertieft. Der links vor ihm Stehende wandte dem Fotografen den Rücken zu, er trug einen Trenchcoat ähnlich dem von Hitler; der andere war breit gebaut wie ein Soldat mit einem brutalen Bürstenhaarschnitt, er war im Profil zu sehen und gehörte anscheinend der Entourage des Parteiführers an. Hitler selbst blickte vor sich hin, das Kinn auf die Hand gestützt; er wirkte nachdenklich,
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