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Spittelmarkt

Spittelmarkt

Titel: Spittelmarkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernwald Schneider
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bedächtig, als wäre er gerade dabei, einen Gedanken zu fassen. Im selben Moment aber wurde er des Fotografen ansichtig und blickte mit der heraufdämmernden, besorgten Bewusstheit auf, ertappt worden zu sein.
    Das war alles – es war nicht viel – und doch musste ich zugeben, dass das Foto etwas seltsam Fremdes, zutiefst Beunruhigendes besaß. Tatsächlich schien es einen Hitler zu zeigen, den keiner kannte, den niemand sehen durfte, einen Hitler, der in dieser zögernden, halb fertigen Überraschung und Neugier auf seinem Gesicht menschlicher wirkte, als es einem angenehm sein konnte. Das Foto bestätigte, dass Hitler dann am erschreckendsten wirkte, wenn er irgendwie menschlich, zögernd aussah und wirkte wie einer von uns.
    »Wer sind die anderen beiden?«, fragte ich den Doktor.
    Wolfrath warf einen Blick auf das Foto. »Der vorne rechts ist wohl ein Leibwächter oder der Chauffeur; wer der andere ist, weiß ich nicht.«
    Irgendeine vage Erinnerung griff nach mir, während mein Blick auf dem links stehenden Mann, mit dem Hitler gerade gesprochen hatte, eine gewisse Zeit verharrte. Von seinem Kopf sah man nur den Nacken und unter dem breiten Hut das weiße oder silberne Haar, vermutlich war er kein junger Mann mehr. Aber das blieb alles, was ich erkannte, und es gelang mir nicht, den unbestimmten Eindruck zu fassen.
    »Wissen Sie, wo das Foto aufgenommen wurde?«, hakte ich nach.
    »Es ist hier in Berlin entstanden«, wusste Wolfrath, »in einem Gartenlokal, sagte der Fotograf. An den genauen Ort erinnere ich mich nicht, falls er ihn mir überhaupt nannte.«
    »Ist es möglich, dass ich mir einen Abzug davon mache?«, bat Judith, die anscheinend auch das Beunruhigende spürte, das von dem Foto ausging.
    »Ich besitze mehrere Abzüge von diesem Bild. Sie können den hier behalten. Falls Sie ihn in Ihrer Zeitung veröffentlichen, sagen Sie nicht, dass Sie ihn von mir bekommen haben!«
    »Natürlich nicht!«, versprach Judith, nahm das Foto in die Hand und führte es nahe vor ihre Augen, sie hoffte wohl, dadurch mehr zu erkennen.
    »Eine Verkörperung des Bösen, wohl wahr!«, sagte sie nachdenklich. »Und dennoch ist er selbst wahrscheinlich überzeugt davon, für Deutschland das Beste zu wollen.«
    »Nein! Er weiß, dass er Böses tut«, entgegnete Wolfrath sehr bestimmt.
    »Was Sie sagen, widerspricht aller Erfahrung«, entgegnete ihm Judith und ließ die Hand mit dem Foto sinken. »Die Menschen tun unrecht, weil sie irregeleitet sind und weil sie eine falsche Ansicht von dem haben, was recht ist. Dennoch tun sie es niemals aus der klaren Sicht heraus, dass sie unrecht tun.«
    »Natürlich hält Hitler seine Ziele letztlich für gut«, bekräftigte Wolfrath, »aber er weiß, dass diese Ziele nach der Auffassung der überwältigenden Mehrheit der Menschen amoralisch sind. Ich gehe sogar einen Schritt weiter: Er tut das Böse, nicht nur obwohl, sondern weil es das Böse ist. Er begreift es als Provokation, eine Art Kunst, die ihn dem eigenen Ideal näher bringt.«
    Das Böse als Kunstwerk, da war wieder dieser eigenartige Gedanke, der meine Fantasie bereits beschäftigt hatte; allerdings erschien er mir in Bezug auf Hitler als reichlich überspannt.
    »Er ist doch nur ein kleiner Dilettant«, hielt ich dagegen.
    »Ein kleiner oder ein großer Dilettant, ein guter oder ein schlechter Maler, das spielt keine Rolle! Es ist die Art und Weise, in der er sich der Welt nähert. Im Denkprozess des Künstlers und des bewussten Übeltäters gibt es eine verstörende Parallele. Das Vorhaben etwa, einen Albtraum Wirklichkeit werden zu lassen, setzt Einfallsreichtum und Fantasie voraus und erfordert das Bewusstsein, dass der Weg, den man eingeschlagen hat, der Weg des Bösen ist.«
    »Warum sollte jemand ein Kunstwerk des Bösen schaffen wollen?«, fragte Judith den Professor konsterniert.
    »Ich will Ihnen eine Gegenfrage stellen«, sagte Wolfrath. »Wie, glauben Sie, ließe sich Gott am besten bekämpfen?«
    Judith gab keine Antwort, und auch ich selbst blieb still.
    »Indem man etwas so unvorstellbar Böses tut, dass die Menschen den Glauben an ihn verlieren«, beantwortete Wolfrath die eigene Frage. »Sie und Herr Goltz, Sie vergessen – wie übrigens fast alle Menschen in der modernen Zeit –, dass das Böse aus sich selbst heraus existiert. Es entsteht nicht durch einen Kampf innerhalb der menschlichen Seele, es ist vielmehr ein Phänomen per se, das niemals überwunden werden kann. Das Böse in seinem Kern ist

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