Spittelmarkt
Bruder dann umgebracht? Und wie kam er dazu, mich vor meiner Mitreisenden Irene Varo zu warnen?«
»Ich hatte durch Florence, die ich seit eineinhalb Jahren gut kannte, von Ihrer beabsichtigten Reise nach New York erfahren. In ihrem Telegramm äußerte Florence die Befürchtung, dass ihre Feinde Kontakt zu Ihnen aufnehmen könnten, mit dem Ziel, ihr zu schaden. Deshalb bat ich Ernst darum, zeitgleich die Passage auf der ›Bremen‹ zu buchen, damit er unterwegs ein Auge auf Sie haben und Florence und ihre amerikanischen Freunde warnen könnte, sollte es sich als notwendig erweisen. Ernst kannte Florence nur flüchtig, und von ihren Feinden wusste er lediglich ein paar Namen. Nachdem er bemerkte hatte, dass Irene Varo Sie zu umgarnen begann, wie Sie selbst es schilderten, müssen bei ihm die Alarmglocken geklingelt haben. Er ahnte, dass die Frau auf Sie angesetzt worden war, und tat, was er tun musste.«
»Falls Sie recht haben, müsste Irene Varo für seinen Tod verantwortlich sein«, sagte ich.
»Wenn Roland Olden ebenfalls an Bord der ›Bremen‹ war, wie du sagst, haben seine Schwester und er es wahrscheinlich gemeinsam getan«, resümierte Judith. »Sie haben ihn umgebracht und anschließend seinen Kopf in die Schlinge gesteckt. Nur, woher wussten die Geschwister von dem Professor? Hast du Irene irgendetwas über ihn erzählt?«
»Nein, nichts! Das ist absolut sicher! Vielleicht hat ihr Bruder etwas bemerkt.«
Judith seufzte resigniert. »Wir werden wohl nicht erfahren, was genau ihren Verdacht erregte. Aber was sollen wir jetzt tun? Die Polizei verständigen, damit das schöne Pärchen seine verdiente Strafe erhält?«
Dr. Martin Wolfrath winkte ab. »Ich gebe mich keinen Illusionen hin. Ein Fremdverschulden lässt sich nicht beweisen. Feststellungen über die Todesursache sind sowieso nicht möglich. Ich habe die Leiche von Ernst einäschern lassen und mich bewusst gegen eine Obduktion entschieden. Die Leute, die für den Tod von Ernst und Florence verantwortlich sind, würden nicht davor zurückschrecken, der Liste ihrer Mordopfer weitere Namen hinzuzufügen.«
»Darf ich mich näher nach Ihren Verbindungen zu Florence erkundigen?«, fragte ich ihn. »Wie haben Sie sich kennengelernt?«
»Zwischen unseren Familien gibt es transatlantische Bande. Ernst und ich sind Halbbrüder, wir haben denselben jüdischen Vater, jedoch verschiedene Mütter. Als Ernst drei Jahre alt war, starb seine Mutter ganz unerwartet an einem Aneurysma. In zweiter Ehe war unser Vater dann mit einer Christin verheiratet, meiner Mutter, die auch für Ernst zur engsten Bezugsperson wurde. Darauf ist es auch zurückzuführen, dass er sich später zum Christentum bekannte, zumal unser Vater seinen Glauben ohnehin kaum praktizierte. Eine jüngere Schwester meiner Mutter war Anfang des Jahrhunderts mit ihrem Mann nach Amerika gegangen. Die beiden wurden in Boston ansässig und enge Freunde der Farrows, der Eltern von Florence. Florence kannte meine Tante gut und hatte auch von mir gehört. Sie hatte mein Buch gelesen, in dem ich die obskuren Rassetheorien des führenden nationalen Rassekundlers Hans Günther von der Universität Jena scharf angreife – und so kam es, dass sie den Kontakt zu mir suchte, nachdem sie sich ihrem Ehemann und dem Kreis ihrer deutschen Freunde entfremdet hatte. Das war vor etwa eineinhalb Jahren. Zu dieser Zeit entstand ein kleiner Freundeskreis von Gleichgesinnten, der seither alle zwei oder drei Wochen zu einem Gedankenaustausch zusammenkommt. Was uns eint, sind weniger die amerikanischen Verbindungen als unsere gemeinsame Sorge um Deutschlands Zukunft.«
»Wovor haben Sie und die anderen denn Angst?«, wollte Judith inzwischen sichtlich beunruhigt wissen.
»Schon seit Jahrzehnten grassiert in Deutschland eine Art Wahn«, antwortete Martin Wolfrath. »Es ist der Wahn, dass ein Erlöser kommen müsse, Deutschland zu retten. Inzwischen glauben die vom Wahn Befallenen, ihren Erlöser gefunden zu haben, und haben damit begonnen, ihm den Weg zu bereiten. Personenkult ist immer eine entsetzliche Sache. Ich bezweifle inzwischen nicht mehr, dass wir mit diesem selbst ernannten Erlöser in Deutschland schlimmen Zeiten entgegengehen.«
»Hat Florence deshalb Deutschland verlassen?«, fragte ich.
»Vergangenen Sommer erzählte sie mir, dass sie zurück nach Amerika wolle – und zwar nach New York, wo sie Freunde habe. Sie erklärte mir auch, weshalb dieser Schritt sehr gefährlich für sie sei. Sie war nämlich
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