Spittelmarkt
überschätzt. Dieser Mann, ein unbedeutender Landschaftsmaler, ein kleiner österreichischer Gefreiter, der Führer einer zweifelhaften Partei, ist sicher nicht der Antichrist und wird nicht die Apokalypse heraufbeschwören. Wolfraths Ansichten erscheinen mir da reichlich überspannt. Ich fürchte, der gute Mann hat sich im Gestrüpp seiner eigenen Theorien und Visionen verfangen.«
»Mich hat er ein Stück weit auf seine Seite gebracht«, lies Judith mich wissen. »Ich glaube, ich sehe die Dinge nicht mehr so gelassen wie noch vor ein paar Tagen.«
»Das apokalyptische Bild, das er von Hitler zeichnet, entstammt einer sehr persönlichen Sicht. Dieses Horrorszenario verstellt ihm den Blick auf die wirkliche Situation in Deutschland, die bei allen Problemen, die wir haben, so aussichtslos nicht ist.«
»Ist da nicht der Wunsch der Vater deiner Gedanken? Hältst du nicht sein Horrorgemälde nur deshalb für unrealistisch, weil du nicht willst, dass es Wirklichkeit wird, und auch du in der Vorstellung befangen bist, dass ein deutscher Reichskanzler kraft seines Amtes ein Wahrer deutscher Tugenden ist? Du könntest dich irren; ich würde an deiner Stelle in der nächsten Zeit etwas aufmerksamer sein.«
»Ich passe schon auf. Dieses Foto ist übrigens sehr interessant. Der Chauffeur und dieser andere, sein Gesprächspartner, irgendetwas kommt mir bekannt vor. Vielleicht ist es auch der Ort, dieses Lokal. Ich müsste mir das Foto einmal in Ruhe betrachten. Falls du es vervielfältigen solltest, würdest du für mich einen Abzug machen?«
»Kein Problem, natürlich!«, versprach mir Judith.
Und so nahmen wir voneinander Abschied.
Ich kehrte in mein Büro zurück, um liegen gebliebene Arbeiten zu erledigen. Trotz der Skepsis, mit der ich den beunruhigenden Ansichten Martin Wolfraths begegnete, nahm die Erinnerung an das Gespräch meine Gedanken so stark in Anspruch, dass ich unverhältnismäßig viel Zeit für meine Akten benötigte.
Es war später Freitagabend, als ich meine Kanzlei wieder verließ. Draußen wirbelten Schneeflocken unter den Laternen hindurch. Ich ging die Straße hinauf und bog nach links in die Allee Unter den Linden. Ich stapfte durch die weiße Pracht und erreichte linkerhand das Adlon. Teure schwarze Limousinen, deren blank polierten Lack man im Licht der Laternen trotz des winterlichen Gestöbers funkeln sah, waren davor geparkt, und livrierte Chauffeure in Mützen und Mänteln standen Zigaretten rauchend beieinander. Ich sah einzelne gut gekleidete Gäste, die durch das orangefarben leuchtende Foyer in die Dunkelheit hinaustraten.
Etwas an der Erscheinung des Mannes, der gerade die Hotelhalle verließ, musste meine Aufmerksamkeit erregt haben, denn meine Augen hatten einige Momente länger als üblich auf seiner Gestalt verweilt. Vielleicht war es die Verbindung von hohem Alter und aufrechtem Schritt, die einen Erinnerungsfunken bei mir ausgelöst hatte, denn schon einen Augenblick später blieb ich wie angewurzelt stehen, weil der Mann, der eben das Adlon verlassen hatte, Santor war, der Mitgründer der ›Brüder und Schwestern vom Licht‹ – der Mann, den ich für den geheimnisumwobenen Pharao hielt.
Ich erinnerte mich an das Foto. Konnte nicht Santor der geheimnisvolle Gesprächspartner des Parteiführers gewesen sein?
Zu meinem Glück befand ich mich gerade an einer Stelle des Platzes, den der Lichtkegel der Laternen nicht erreichte, sodass es unwahrscheinlich war, dass Santor mich in der Dunkelheit erkannte, zumal ich nicht der einzige Passant weit und breit war. Er blickte nicht ein Mal in meine Richtung, sondern bewegte seine Schritte zielgerichtet über den Platz; es war klar, dass er ganz genau wusste, wohin er wollte.
Mein eigener Weg lag in der entgegengesetzten Richtung, aber ich zögerte keinen Moment, Santor zu folgen. Eine solche Gelegenheit, sagte ich mir, würde sich so schnell nicht wieder ergeben, hoffte ich doch, das geheimnisvolle Haus in Friedrichstadt könnte das Ziel sein, das er zu dieser abendlichen Stunde ansteuern würde. Die Dunkelheit und der Schneefall erschienen mir für eine Verfolgung ausgesprochen günstig.
Santor schlug die erhoffte Richtung ein, denn er bog hinter dem Adlon rechts um die Ecke, ging die Wilhelmstraße hinunter, stapfte gemächlich, aber zielstrebig durch den Schnee auf dem Bürgersteig, und ich, der ihm folgte, hatte es noch nicht erlebt, dass ein Mann von 84 Jahren einen so leichten, federnden Schritt besaß. Es war nicht einmal
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