Spittelmarkt
Er trat zum Sekretär, in dem sich auch die Fotos und die Liste von den Geschwisterpaaren befanden, und gab mir Zettel und Stift. Ich notierte meine Anschrift – sowohl die private als auch die der Kanzlei – auf das Papier und fügte meine Telefonnummer hinzu.
»Sie könnten mir Ihrerseits mit einer Adresse helfen«, bat ich ihn, indem ich ihm den Zettel übergab. »Und zwar mit der des Hauses, in dem diese vorweihnachtliche Veranstaltung stattgefunden hat.«
Ein Schatten huschte über seine markanten Züge und sofort war er wieder der düstere Ritter, wie er mir zuvor erschienen war. »Vielleicht«, sagte er, »sollten Sie es vorziehen, diesen Ort nicht zu kennen. Mir ist bewusst, dass man Sie mit verbundenen Augen zu der Veranstaltung fuhr; aber das Schweigegebot, dem ich unterliege, gilt nicht zuletzt für diesen Ort.«
Er blickte zur Uhr, die an der Wand gegenüber dem Sofa hing, und erhob sich abrupt von seinem Platz. »Ich habe noch eine Verabredung heute Abend«, sprach er. »Es war nett, dass wir uns einmal kennengelernt haben.«
Es wäre zu gefährlich gewesen, ihn auf die in seinem Sekretär verborgene Liste anzusprechen. Ohnehin hätte er mir auf meine Fragen nicht die richtigen Auskünfte gegeben. Es musste möglich sein, dass ich die Antworten anderswo erhielt.
»Leben Sie wohl!«, verabschiedete ich mich. »Ihre Schwester weiß jetzt, wo sie mich findet.«
19
Judiths Telefonanruf erwischte mich an einem Freitag nach der Monatsmitte, als ich gerade im Begriff war, zum Mittagessen zu gehen.
»Herr Dr. Wolfrath kommt gleich zu mir«, sagte sie.
»Wie bitte?«
»Du hast richtig gehört! Dr. Wolfrath ist der jüngere Bruder – oder vielmehr: Halbbruder – deines Mitreisenden von der ›Bremen‹. Hast du etwas Zeit? Er möchte dich gern kennenlernen.«
»Und wieso kommt er zu dir?«
»Das Schicksal des armen Professors, seines älteren Bruders, hat mich gerührt. Ich wollte herausfinden, wer er war, und habe mich auf seine Spur gesetzt. Es war nicht schwierig. Ein Anruf in der Heidelberger Universität und ein Blick ins Berliner Telefonbuch haben genügt. Dr. Martin Wolfrath steht wie sein Bruder in den Diensten einer Universität. Er gehört der Philosophischen Fakultät der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität an. Nachdem ich mit ihm telefoniert habe, hat er mir seinen Besuch angekündigt.«
Ich sagte sofort zu, dass ich an dem Gespräch teilnehmen würde, und fuhr mit der U-Bahn zum Ullsteingebäude hinaus. Als ich eintraf, erwarteten mich Judith und ihr Gast bereits.
Dr. Martin Wolfrath war vier oder fünf Jahre jünger als sein Bruder und ein ganzes Stück höher gewachsen. Er trug einen schlichten dunklen Anzug und eine Brille, deren Gläser seine wachen Augen stark vergrößerten. Er hatte den Habitus eines Gelehrten, was bei ihm aber nichts Unangenehmes hervorrief, sondern authentisch wirkte.
»Wir haben meinen Bruder Ernst Ende November in Heidelberg beigesetzt«, wandte er sich an mich. »Sie sind der Letzte, der ihn lebend gesehen hat. Wie Sie sich gewiss denken können, liegt mir viel daran, etwas über die letzten Tage im Leben meines Bruders zu erfahren.«
Unterwegs hatte ich mir vorgenommen, Dr. Martin Wolfrath von Anfang an reinen Wein einzuschenken, und das tat ich schließlich auch. Das Eingeständnis, dass ich wegen der Verabredung mit der Frau, die vielleicht die Mörderin seines Bruders geworden war, dessen Bitte um ein Treffen ignoriert und nach seinem Tod nicht einmal den Steward alarmiert hatte, fiel mir nicht leicht; doch nachdem es über die Lippen kam, fühlte ich mich erleichtert.
Wolfrath seinerseits trug mir meine Verhaltensweise nicht nach. »Ob Sie seinen Tod hätten verhindern können, muss man wohl bezweifeln«, sagte er. »Diese Leute hätten so oder so einen Weg gefunden, ihr Vorhaben auszuführen. Im Gegensatz zu Ihnen trage ich keine Zweifel, dass Ernst ermordet worden ist. Ich halte es für ausgeschlossen, dass er Selbstmord beging.«
»Ihr Bruder schien über die politische Lage in Deutschland recht unglücklich zu sein«, erwiderte ich. »Was lässt Sie so sicher sein, dass er getötet wurde?«
»Ernst hing an seiner Heimat, war aber entschlossen, Deutschland zu verlassen. Der Hauptzweck seiner Reise war es, Kontakte zu ostamerikanischen Universitäten zu knüpfen. Ein Selbstmord wäre völlig sinnlos gewesen.«
»Es fällt schwer, mir vorzustellen, was genau geschehen ist«, entgegnete ich. »Wenn es kein Selbstmord war, weshalb wurde Ihr
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