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Spittelmarkt

Spittelmarkt

Titel: Spittelmarkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernwald Schneider
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transzendent, unübertrefflich, absolut, ein Böses, für das sich keine einleuchtende Erklärung finden lässt, und dessen Ziel es ist, dem Menschen den Glauben an Gott zu nehmen.«
    Wolfrath nahm seine Brille ab und wischte sich die Augen. Er wirkte plötzlich erschöpft. Ich hatte den Eindruck, dass er mehr von seinen Überzeugungen preisgegeben hatte, als er es ursprünglich vorhatte.
    »Ich habe das ungute Gefühl, dass hinter verschlossenen Türen an etwas furchtbar Unheilvollem gestrickt wird«, sagte er nach einer Weile. »Sehen Sie, all die scheußlichen Morde, die beinahe täglich geschehen – es sind so viele, dass längst nicht mehr über alle berichtet wird. Und es wird nichts dagegen unternommen – nichts!«
    »Das ist leider wahr!«, pflichtete Judith ihm bei. »Egal, was wir darüber schreiben, über all die Morde, Lügen, Fälschungen, die in diesem Zusammenhang verbreitet werden, man erreicht damit nur eine kleine Minderheit. Die meisten Leute scheinen das Treiben der Nationalsozialisten für eine gelungene Art von Folklore zu halten. Der Überdruss an Politik ist so allgemein verbreitet und so grenzenlos, dass kaum jemand die Bedrohung ernst nimmt, die von dieser Partei tatsächlich ausgeht.«
    »Allein der dramatische Anstieg der Anzahl der politischen Morde in den ersten beiden Januarwochen dieses Jahres sollte uns wachrütteln«, sagte Wolfrath. »Entgegen landläufiger Ansicht ist meiner Überzeugung nach die Gefahr heute größer denn jemals zuvor. Hindenburg könnte weniger Hemmungen haben als im vergangenen Sommer, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen, weil er glaubt, dass die Partei deutlich an Macht verloren hat. Der Mann könnte gerade deshalb an die Macht kommen, weil er bei der Novemberwahl viele Stimmen verloren hat. Er wird von der konservativen Kamarilla, die den senilen Reichspräsidenten umgibt, für nicht länger gefährlich erachtet.«
    Die Stimmen derer, die mich auf meiner Reise nach New York vor ihm gewarnt hatten, erklangen plötzlich lauter an mein Ohr. Die Stimme von Florence, die nun nicht mehr lebte, die Stimme Ernst Wolfraths, ebenfalls tot, und die der anderen, die ich vernommen hatte. Ich musste mir eingestehen, dass die Antworten, die ich diesen Leuten damals gegeben hatte, heute gewiss nicht mehr die gleichen sein würden.
    »Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass der Präsident seine Meinung geändert hat!«, wandte ich trotzdem ein.
    »Betrachte doch die aktuelle Entwicklung!«, sprang Judith dem Professor bei. »Hast du nicht die Meldungen gelesen, die in den letzten Tagen durch die Presse gegangen sind? Die Nationalsozialisten, deren Stern man zu Weihnachten schon weit hinten am Horizont hatte versinken sehen, sind wieder hoffähig geworden. Ganz ohne Not und offenbar aus einem bloßen Machtinstinkt heraus, haben sich die konservativen Kreise ihnen wieder angenähert.«
    Wolfrath hatte sich ein Stück von uns abgewandt. Er warf einen Blick zu dem Dämmerlicht hinter dem Fenster und schaute auf seine Uhr. Ein leichtes Schneetreiben hatte draußen eingesetzt, und es wurde bereits dunkel.
    »Mir scheint, es ist Zeit, dass ich mich auf den Weg mache«, sagte er und trat zu einem Tisch, auf dem eine Aktenmappe und einige Papiere lagen. Diese steckte er in die Tasche und griff nach seinem Mantel, der über einer Stuhllehne hing. Während er ihn anzog und langsam zuknöpfte, blickte er noch einmal wie abwesend zum Fenster und sprach leise, fast resigniert: »Woche um Woche, die vergeht, wage ich immer weniger auf das gnädige Wunder zu hoffen, für das ich jeden Tag bete.« Dann drehte er sich um und sah uns beide der Reihe nach an. Seine Augen waren von einem strahlenden Kranz umgeben, der nichts mit den Brillengläsern zu tun hatte, die sie verbargen.
    »Es hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte er. »Vielleicht – geht der Kelch ja doch noch an uns vorüber. Steuern Sie Ihren Teil dazu bei, dass das Wunder geschieht.« Etwas leiser fügte er hinzu: »Beten Sie!«
    Anschließend gab er uns beiden die Hand, nahm seine Aktentasche und verschwand durch die Tür aus unserem Leben.
    »Was hältst du von Wolfraths Überzeugungen?«, fragte mich Judith, als wir zehn Minuten später auf dem parkähnlichen Platz neben dem Verlagsgebäude in der kalten Januarluft ein wenig spazieren gingen.
    »Was er über die Errichtung eines Kunstwerks des Bösen sagte, hat mich zwar beeindruckt – dennoch glaube ich nach wie vor, dass er die Rolle Hitlers deutlich

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