Splitter im Auge - Kriminalroman
weißen Tuch hatten sie ihm den Unterkiefer hochgebunden, es erinnerte Steiger an alte Zeitungswitze, in denen Figuren mit großen Nasen mit Zahnschmerzen in Wartezimmern saßen und leidende Gesichter hatten. Das Gesicht seines Vaters war nicht leidend, es war tot. Sie sehen tot aus, nicht schlafend, schon bei seiner ersten Leiche hatte er das gedacht. Tot und ruhig und weit weg, wenn sie nicht gerade auf die Idee gekommen waren, sich mit dem falschen Gift die letzten Minuten zur Hölle zu machen.
Durch den Fensterspalt bewegte der Wind die Gardinen. Mit kleinen, wackeligen Schritten ging Steiger zum Bett, blickte auf die käsige Gesichtshaut, die fleckigen Hände und nahm ihm die Witzfigurenbinde ab. Zu spät. Er sah nach oben und suchte die Decke ab.
Bist du da noch irgendwo? Das sagen sie doch alle, die Zurückgekommenen, dass sie sich von oben gesehen haben, wie sie daliegen mit all den Leuten drum herum. Na?
Die Vorstellung war ihm immer kindisch vorgekommen, jetzt hätte sie etwas Linderndes gehabt, was ihn wunderte. Zögernd und mit leichtem Zittern fasste er die kalten Hände an, streichelte sie erst, knetete sie dann. Das Nagelbett war an einigen Stellen gerissen und wurde schon blau. Aber es war sauber, nicht mehr schwarz wie früher, wenn er vom Pütt nach Hause gekommen war. Das Holzmesser hatten diese Hände geschnitzt und es hinterher angepinselt. Den Griff mit einem Rest blauer Farbe aus dem Schuppen und die Klinge mit Silberbronze, dass es fast echt aussah. Na ja, fast eben. War bei den Jungen in der Siedlung eine große Nummer gewesen, das Ding. Nur Henners Gewehr hatte noch mehr Eindruck gemacht mit dieser alten Haltestange vom Treppenläufer, die aussah wie ein echter Lauf. Und geschlagen hatten diese Hände ihn, dreimal geschlagen. Einmal wegen eines geklauten Kaugummis beim Kaufmann die Straße runter, der deswegen einen Affenaufstand gemacht hatte. Die beiden anderen Gründe hatte Steiger vergessen. Aber das war alles lange her. Jetzt lagen sie hier gefaltet und wurden nicht warm, solange er sie auch rieb und drückte.
Irgendwann ließ er sie los, ganz plötzlich, schob dem Alten das Tuch wieder unter das Kinn und verließ das Zimmer, ohne sich umzudrehen.
Im Foyer saß die Frau mit dem weißen Kragen wieder hinter der kurzen Theke, sie stand auf, als sie ihn kommen sah. Er unterbrach kaum seinen Gang, alles Weitere konnten sie auch morgen früh regeln, telefonisch, natürlich. Bei ihren letzten Worten war er schon durch die Glastür.
Jana Goll hatte den Ford in eine Parklücke gefahren und das Blaulicht wieder unter dem Sitz verstaut. Sie stand an den Kotflügel gelehnt und rauchte. Als sie Steiger kommen sah, bekam ihre Haltung etwas Starres, und sie sah ihn mit banger Scheu an. Er setzte sich hinters Steuer, lehnte den Kopf einen Moment an die Stütze. Jana trat ihre Kippe aus und stieg ein. Er hatte die Hände aufs Lenkrad gelegt, blickte geradeaus durch die Scheibe ins Leere.
Nach einer Woche hatte er das Messer verloren, damals. Vielleicht war es ihm auch geklaut worden, vielleicht sogar von einem der Jungen aus der Siedlung, waren schon einige dabei, denen er es zugetraut hätte. Jedenfalls war es weg, nicht mehr auffindbar, obwohl er wie ein Idiot danach gesucht hatte. Wochenlang war der Alte mit Anklagegesicht rumgelaufen damals, sobald er das Haus nach der Arbeit betreten hatte. Kaum ein Wort und ständig dieses Gesicht.
»Ist er tot?«
Jana reichte ihm den Schlüssel, ihr Atem roch angenehm nach Nikotin.
»Ja.«
Er sagte es, ohne sie anzusehen.
Dann startete er den Wagen und fuhr los.
3
Für den Rückweg nach Dortmund hatten sie die 42 genommen, da lief es meistens besser. Obwohl sie ein paar Haftbefehle dabeihatten, waren sie danach ohne Ziel durch die Stadt gefahren, es war zum Glück auch sonst eine tote Nacht. Bis kurz nach eins im Westfalenpark zwei Betrunkene von drei Jugendlichen abgezogen worden waren. Einer der beiden Saufkumpane hatte gemeint, sich wehren zu müssen, und war jetzt mit einer Stichwunde auf dem Weg ins Krankenhaus. Der andere Trinker hatte am Hals des Stechers eine Tätowierung gesehen, eine dreiköpfige Schlange, die etwas spie. Nicht viel, aber Steiger hatte es gereicht.
»Wir stehen jetzt bei Wenzel.« Jana wartete die Quittung der Einsatzleitstelle ab, legte das Mikrofon in die Schale zwischen den Sitzen und löste den Sicherheitsgurt erst, als der Wagen stand. Es hatte angefangen zu regnen. Steiger ließ das Seitenfenster ein kleines Stück
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