Splitter
fühlte Marc nicht mehr die bleierne Schwere, die ihn bislang in der Couch gehalten hatte. Das Aufstehen gelang ihm ohne Kraftanstrengung. »Na los, Tarzan.« Haberland nahm sich eine alte Strickjacke von dem stummen Diener und beugte sich zu seinem Hund. Das müde Tier hob die Schnauze, streckte sich und kroch aus seinem Rattankörbchen vor dem Fenster.
Marc sah erst in das Feuer, dann zu dem Arzt, der seinem Hund den Kopf tätschelte.
»Es war also alles umsonst?«, fragte er. »All das Leid, vergebens?«
Haberland sah auf.
Hätte ich Benny etwa doch fallen lassen sollen? »Ich weiß es nicht. Ich kann nicht in die Zukunft sehen.
Niemand kann das. Ich kann Ihnen nur sagen, was in Ihrer Erinnerung bereits vorhanden ist.«
Marc nickte. Der Film war zu Ende. Die letzte Rolle von der Spule gefallen.
»Aber Sie wissen ja, was ich denke.«
Es kann nie richtig sein, etwas Falsches zu tun. Die Dielen knarrten leise, als Haberland mit kurzen Schritten zur Verandatür schlurfte, seinen alten Hund im Schlepptau. Von hinten wirkten sie müde, aber zufrieden. Draußen schien es heller zu werden, und Marc meinte, den Rauch des Kamins auf einmal viel intensiver wahrzunehmen. Aber das konnte auch nur Einbildung sein. Eine weitere biochemische Störung seines Gehirns, so wie das Bild des Professors, der sich mit der Türklinke in der Hand noch einmal zu ihm umdrehte.
»Kommen Sie«, sagte er. »Wir machen einen kleinen Spaziergang. »
Berlin Aktuelles h2>
Der Zweck und die Mittel
Heute wurden in der Senner-Klinik in BerlinCharlottenburg bei einem Menschen die lebenserhaltenden Geräte abgestellt, dessen Schicksal in den letzten Wochen in der Bevölkerung breite Anteilnahme erfahren hat.
Marc Lucas war gemeinsam mit seinem Bruder Benjamin aus bislang noch ungeklärten Umständen von dem Dach der Klinik gestürzt, in der er nach zehn Tagen künstlichen Komas verstarb. Dabei hatte er sich schwere innere Verletzungen zugezogen, die letztlich zu seinem Tod führten, der heute um 1.04 Uhr festgestellt wurde.
Es mutet wie eine zynische Ironie des Schicksals an, dass durch Lucas’ Tod zwei Menschenleben gerettet werden konnten. Wäre Lucas nicht zuerst auf dem Boden aufgeschlagen, hätte er den Sturz seines Bruders nicht gedämpft, der zwar mit zahlreichen Knochenfrakturen, jedoch ohne innere Schädigungen überlebte. Das ermöglichte eine Organspende von Benjamin Lucas, dessen linker Leberlappen für ein Neugeborenes entnommen werden konnte. Dabei handelte es sich ausgerechnet um das Kind des Verstorbenen, das nur wenige Minuten vor dem Sturz seines Vaters mit einem tödlichen Leberschaden entbunden worden war.
Der Fall beschäftigt wegen seiner mysteriösen Umstände jetzt die Staatsanwaltschaft. Denn vieles deutet darauf hin, dass hier ein Selbstmord für eine illegale Organspende ausgenutzt werden sollte, zumal es sich bei dem Klinikleiter Constantin Senner um den Vater von Sandra Lucas handelt, der Ehefrau des Verstorbenen. Der OP für die Transplantation war bereits vorbereitet, ein Ärzteteam für die schwierige Operation eines Neugeborenen hielt sich bereit, und das Baby stand seit Wochen auf der Warteliste für ein Spenderorgan. Zudem soll Gerüchten nach ein weiteres Transplantationsteam auf Marc Lucas gewartet haben, der angeblich selbst auf eine Leberspende angewiesen war. Das würde zumindest die Selbstmordtheorie der Staatsanwaltschaft erhärten, denn lebend hätte Benjamin Lucas seine beiden Organhälften niemals spenden können. Wenn er allerdings gleichzeitig seinen Bruder und das Ungeborene durch seinen Freitod retten wollte, weshalb sprang er dann gemeinsam mit Marc Lucas in die Tiefe?
Eine interne Quelle der Staatsanwaltschaft bezweifelt, dass es zu einer Anklage kommen wird.
»Die Beweislage bei derartigen Familiendramen ist immer schwierig. Constantin Senner könnte sicher wegen unethischen Verhaltens die Approbation entzogen werden, doch der Chirurg hatte ohnehin vor, seine Klinik wegen Geldproblemen zu verkaufen und nicht länger zu praktizieren.«
Es ist also fraglich, ob die Hintergründe jemals ganz aufgeklärt werden. Das meiste Wissen dürfte wohl mit dem Tod von Marc Lucas für immer verloren gegangen sein, und sein Bruder beruft sich auf sein Aussageverweigerungsrecht, seitdem er von der Intensivstation entlassen wurde. Zumindest scheint er die Lebendspende, die in Deutschland unter Verwandten zulässig ist und bei der nur ein Teil des Organs verpflanzt wird, gut überstanden zu haben.
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