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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilly Lindner
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eingestehen muss, dass ich etwas will, was mir angetan wurde. Etwas, das falsch war und so viel zerrissen hat: mich und meine Seele.
    Ich fühle mich schuldig.
    Denn damals, als ich das kleine Mädchen war, bin ich weggelaufen vor mir selbst, so weit es nur ging.
    Eine Seelenflucht.
    Bis ins rote Licht.
    Für einen kurzen Moment öffne ich meine Lippen, um Chase all das zu sagen, doch dann schiebe ich mir einfach eine weitere Gabel Spaghetti in den Mund und kaue schweigend darauf herum.
    Aber Chase, der so viele Facetten besitzt, der mich mühelos durchschauen und berühren kann, er sagt zu mir: »Ich weiß genau, was du da tust, Lilly, ich wollte nur sichergehen, dass du es auch weißt. Und glaub mir eines: Es ist verdammt leise, wenn du schreist; aber deine Stille ist ohrenbetäubend. Und wenn du schweigst, dann höre ich dich flüstern, während die Luft um dich herum erstarrt, als wollte sie nicht zulassen, dass jemand zu dir hindurchdringt. Lilly! Ich erwarte nicht, dass du dein Leben nach mir benennst. Aber ich erwarte, dass du mich teilhaben lässt.«
     
    Ich lege meine Gabel auf den Tisch. Neben den halbleer gegessenen Teller. Ich schiebe die Gabel ein Stückchen weiter nach rechts. Weg von dem Teller und den wartenden Nudeln.
    Meine Hand zittert. Genau wie mein Verstand.
    Also schnappe ich mir meine Jacke.
    Und flüchte.

9
    Z wei Wochen später sitze ich wieder im Flugzeug und blicke hinab auf den immer näher kommenden Zürichsee. In Mellingen angekommen, werfe ich meinen Koffer samt seines Inhalts in den Schrank und meinen erschöpften Körper auf das große weiche Bett. Ein Gedanke hämmert dumpf gegen meine Stirn: Wenn ich es schaffe, nicht zu verhungern, dann werde ich bei meiner Rückkehr endlich Lady wiedersehen; zumindest hat sie mir das bei unserem letzten Telefonat versprochen. Was für ein herrlicher Grund, um nicht umgeben von Sargwänden zurück nach Berlin zu fliegen.
    Aber ein unruhiges Zucken durchfährt meine Blutbahnen, meine Hände verkrampfen sich und lassen sich nicht mehr bewegen. Jeder Atemzug ist ein Kampf, jede Bewegung ein Versuch zu entkommen. Fünfunddreißig Kilo ist eine verdammt schwer zu tragende Last. Und Ana schlingt ihre dürren Finger ganz fest um meinen Hals und verzieht dabei keine Miene.
    Auf einmal weiß ich genau, dass die Welt hinter meinem Rücken in ihre Einzelteile zerfällt und sich erst dann wieder blitzschnell zusammensetzt, wenn ich mich umdrehe, um zu sehen, ob sie noch da ist. Denn diese Welt existiert nur für mich, und das ganze Theater, das hier gespielt wird, hat ein großer Künstler geschrieben, der eigens für mich eine schiefe Bühne gebastelt hat und nun mit seinem unsichtbaren Taktstock den rasanten Soundtrack zu meinem improvisierten Leben dirigiert.
    So etwas denkt man, wenn man vier Tage lang nichts außer zwei Kiwis, einem halben Keks, drei Blaubeeren und fünf Teelöffel Joghurt gegessen hat und anschließend alles im hohen Bogen wieder auskotzen musste. Wenn in der überheizten Wohnung tropische Zustände herrschen und der blau angelaufene Körper trotzdem eiskalt und von rauer Gänsehaut überdeckt ist; wenn man unendlich viele Schwänze geblasen hat und sich danach sehnt, zur Abwechslung endlich einmal wieder an einem Bonbon zu lutschen – nichts weiter.
    Chase, schreibe ich mit zittrigen Händen, du weißt gar nicht, wie es ist, hier zu sein; und so zu sein, wie ich es bin. Ich kann stundenlang, tagelang, wochenlang, nein – für den Rest meines Lebens auf dem Fußboden sitzen und mich fragen, was ich hier eigentlich tue, und ich werde nie eine Antwort dafür finden. Denn wie könnte ich das, wie könnte ich je verstehen, warum ich in dieses Leben geraten bin, weshalb ich geworden bin, wie ich bin, und wieso ich all das mit mir geschehen lasse?
    Wie kann ein Mädchen wie ich von heute auf morgen in ein Bordell spazieren und in vier Stunden mit mehr Männern Sex haben als zuvor in ihrem ganzen Leben?
    Wie kann ich meine Hände so sanft über belanglose Körper gleiten lassen und meinem eigenen Körper dabei nach wie vor so fremd sein? Wie soll ich jemals wieder Sex haben können, ohne Geld dafür zu verlangen? Und was sage ich zu mir, wenn ich morgen sterbe, weil ich Ana heiße?
    Ist das meine Ewigkeit?
    Chase schickt mir als Antwort ein Paket, voll mit meinen Lieblingskoalabärkeksen und einem Zettel, auf dem steht: »Meine Süße, die Ewigkeit hört immer erst dann auf, wenn man eine andere findet.«
    Ich esse zwei von den

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