Splitterfasernackt
du denn überhaupt hier verloren? Du brichst den Männern bestimmt reihenweise die Herzen. Stimmt’s? Aber ist ja voll egal. Ich finde dich nett, du bist so eine ganz Süße! Und ich find es cool, dass du immer Kuchen und so mit rüberbringst, und es ist voll schnuckelig von dir, dass du mich nach einem Kunden fragst, ob alles okay ist. Ich würd dir ja auch gerne etwas von meinen Zigaretten oder dem Wodka anbieten, aber das ist ja nicht so dein Ding, versteh ich gar nicht. Ist doch super lecker! Und jetzt erzähl mal, hattest du auch schon ein paar von den Irren? Oder nein, scheiß drauf! Lass uns nicht über Männer reden. Reicht schon, dass wir mit denen reden müssen, um an ihr Geld zu kommen! Ich brauch jetzt einen geilen Beat! Lass uns ins Lolita gehen, da gibt es die coolsten Stripperinnen. Stehst du auf Frauen? Wenn ja, kannst du da zugucken und feucht werden! Aber nimm deinen Ausweis mit! Du kommst doch bestimmt nirgendwo rein, ohne den Zuständigen vom Geburtsurkundenamt mit dir herumzuschleifen. Und sag mal, hast du denn keinen Lippenstift? Wenn du magst, kannst du nachher auch meinen Mascara benutzen. Au ja! Wir machen eine richtig heiße Schnecke aus dir! Dann brauchst du nur noch mit den Augen klimpern, und die Männer reißen sich drum, dir einen Drink zu bezahlen. Und pro ausgegebenen Drink bekommst du von der Bar fünfzig Prozent. Voll geil, oder? Muss man nicht mal ficken, um reich zu werden!«
Angel.
Sie ist achtzehn Jahre alt. Es gibt keine Kondomsorte, die sie noch nicht ausprobiert hat, auf ihrem rechten Knöchel ist in verschnörkelter Schrift »Most sexy girl« eintätowiert. Sie lacht über Blondinenwitze und guckt sich Zeichentrickfilme im Fernsehen an. Ihr Freund ist ein Zuhälter, ihr Hund ein Mops mit Schleife im Ohr und ihr Handyklingelton der bekloppte Frosch.
Angel.
Sie ist verblendet. Von zu viel Geld. Von zu viel Sex. Von zu vielen Drogen.
Sie hat genau wie ich in einem Jugendheim gelebt, sie hat genau wie ich Narben auf ihrem Körper, und sie ist genauso verlorengegangen wie ich.
»Hey, Lilly!«, sagt Angel, nachdem sie mir etwas von ihrem Lippenstift aufgetragen hat und nach meiner Hand greift, um mich ins ›Lolita‹ zu schleifen. »Wenn ich zurück in Berlin bin, lasse ich mir übrigens noch eine zweite Tätowierung machen – auf dem anderen Knöchel:
I am a good girl.
Denn das bin ich. Und du auch, nicht wahr?«
Ja. Ich denke schon.
Das sind wir, irgendwie.
Trotz all dem Sex.
Sind wir gute Mädchen.
Nach anderthalb Wochen ist es dann endlich wieder so weit: Ich werfe all meine Sachen in den Koffer, ziehe die Haustür hinter mir zu, gebe Angel einen Abschiedskuss und meine Handynummer und verlasse Mellingen.
Patrick fährt mich wie jedes Mal nach Zürich zum Flughafen, vor der Gepäckaufgabe drückt er mir noch eine Tüte mit Keksen und Zimtbrötchen in die Hand.
»Damit du etwas Leckeres für den Flug hast«, sagt er und gibt mir einen Kuss auf die Stirn.
»Danke«, erwidere ich und lasse mich umarmen.
»Ich werde dich schrecklich vermissen«, sagt er und guckt traurig.
»Ich dich auch«, lüge ich.
Dann winke ich Patrick noch einmal zu, sehe ihm nach, wie er das Flughafengebäude verlässt, und begebe mich anschließend zu meinem Boarding-Gate.
Row holt mich vom Flughafen ab, und ich freue mich, ihn wiederzusehen. Ich habe Glück, mit jemandem wie ihm zusammenzuarbeiten, denn für ihn ist es okay, dass ich im Gegensatz zu den anderen Frauen kaum Termine mache. Er möchte nicht einmal eine Abrechnung oder eine Liste mit Gästen von mir sehen – solange die Miete, die Werbung und der Flug bezahlt sind, kann ich machen, was ich möchte. Sogar wenn ich nur ein paar Tage arbeite und anschließend Urlaub in der Wohnung mache, lässt er mich gewähren. Ich bin wahrscheinlich das ertragloseste nackte Mädchen aller Zeiten. Aber da Row das Geschäft mehr als Hobby sieht und meine wortverdrehten Sätze mag, werde ich nicht gefeuert.
Es ist zur Routine geworden, dass Row und ich noch zusammen in ein Restaurant gehen, wenn ich aus der Schweiz zurückkomme. Also fahren wir in ein Steakhaus und bestellen uns eine Grillplatte zum Teilen. Natürlich verdrücke ich mich zwischendurch unauffällig auf die Toilette, alles andere wäre ein Verstoß gegen die Essgestörten-Regeln Nummer drei, fünf und siebzehn.
»Muss ich irgendeinem rüpelhaften Schweizer Kunden meinen besten Auftragskiller auf den Hals hetzen?«, fragt Row über sein totes Stück Lamm
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