Splitterfasernackt
trotzdem immer dein Chase sein. Denn glaub mir eins, wenn du ihn nicht berührst, wer bitte sonst soll das schaffen?«
Über dieses Gespräch denke ich nach, während ich, eine Woche nachdem ich aus der Schweiz zurückgekommen bin, mit Chase am Lietzensee spazieren gehe und mir die Welt von ihm erklären lasse.
»Dass wir nicht wissen, was nach dem Tod passiert, ist auch nur so ein kommerzieller Scheiß«, erzählt Chase gerade. »Ich garantiere dir: Gott hat sich mit seinen Geschäftspartnern zusammengesetzt und mal ordentlich Bilanz gezogen: Sohn am Kreuz, kein Nachfolger, übers Wasser laufen ist mittlerweile uncool – insbesondere seit die Leute WaveRunner fahren, keine Sau kauft sich die Bibel, die Menschheit baut U-Boote statt Holzarchen und, und, und … da war ihm dann sofort klar, dass wir Menschen niemals erfahren durften, was nach dem Tod mit uns geschieht. Ich meine, stell dir mal vor, du wüsstest, dass du in irgendeinem Paradies landen wirst, mit siebentausend nackten Jungfrauen, einer Bierflatrate und gratis Gehirnzellenerweiterungstabletten. Wir würden kein Geld mehr für Friedhöfe ausgeben und ständig aus Versehen sterben. Wir hätten viel zu wenige Probleme, und wir hätten nichts mehr, worüber wir uns aufregen könnten. Es wäre scheißlangweilig, unser Gott zu sein, und was verkauft man einem Menschen, der weiß, dass er am Ende sowieso alles hat, was er je wollte? Oder andersherum: Stell dir mal vor, wir wüssten, dass wir alle in der Hölle landen müssen. Dann würden wir vollkommen abdrehen und nur noch Schwachsinn machen. Wir würden nie wieder etwas kaufen, sondern alles nur klauen. Wir würden jeden umbringen, der uns blöd kommt oder der etwas hat, was wir auch gerne haben würden. Gott hätte verspielt, verstehst du? Das ist wie Weihnachten, das funktioniert auch nur, wenn überall Schokoladenweihnachtsmänner herumstehen, ansonsten könnte es genauso gut Ostern sein, oder sogar der verdammte
fucking
Tod.«
Mir fällt nichts ein, was ich dazu sagen könnte, Chase’ Gedankengänge sind manchmal noch absurder als meine. Vielleicht sollte ich anfangen zu koksen, vielleicht würde mich das neutralisieren. Aber vielleicht wird man vom Koksen ja dick. Das wäre ein Desaster. Also laufe ich schweigend neben Chase her, bis ich schließlich umkippe, weil ich seit drei Tagen nichts mehr gegessen habe. Chase fängt mich auf und sagt: »Lass mich raten, eine Stimme in deinem Kopf hat dir geflüstert, dass alles schöner und besser sein wird, sobald du unter dreißig Kilo wiegst. Und lass mich weiter raten: Dein hochentwickeltes, superintelligentes Hirn hat den Moment der Dummheit für sich entdeckt und
Ja! Das klingt logisch!
gebrüllt.«
Wir sehen uns an, Chase und ich.
Und Ana und Mia.
»Der Blödmann soll mal schön seine Klappe halten«, meint Ana böse zischend.
»Er ist mein Freund«, entgegne ich.
»Du hast keine Freunde«, faucht Ana. »Ich bin deine einzige Freundin!«
»Und ich!«, fügt Mia hinzu.
»Fette Schlampe!«, schnauzt Ana.
»Wie kann man nur so ein herzloses Biest wie du sein?«, erwidert Mia eingeschnappt.
»Wenigstens bin ich SCHLANK !«, kreischt Ana.
»Ich bin AUCH SCHLANK !«, wütet Mia.
Ich lausche gebannt dem nervenaufreibenden Streit. Gespräche von Ana und Mia können ohne weiteres zu meinem Tageshauptgeschehen werden. Aber Chase schiebt die beiden ziemlich unsanft beiseite, packt mich am Arm und schleift mich bis in seine Wohnung. Dort setzt er mich auf einen Stuhl und verschwindet in seiner Küche. Kurze Zeit später steht eine riesengroße Portion Spaghetti Bolognese vor mir auf dem Tisch. Chase setzt sich auf einen Stuhl gegenüber und sieht mich nicht gerade freundlich an. Ich bin zu schwach, um mit ihm zu streiten, also esse ich.
»Was tust du dir da nur an?«, fragt Chase nach einer Weile – mehr an sich selbst gewandt als an mich.
Ich gebe ihm keine Antwort, sondern kaue lieber eine Ewigkeit auf einem Stückchen Hackfleisch herum, das in meinem Mund immer größer und größer zu werden scheint, bis ich es schließlich herunterwürge.
Was ich mir antue?
Ich habe Sex mit Tausenden von Männern. Nur so, obwohl ich Sex überhaupt nicht mag; und Männer mag ich eigentlich auch nicht. Aber manchmal will ich trotzdem Sex, und manchmal will ich trotzdem einen Mann – wäre das ein Satz, der mich erklären würde?
Oder müsste ich noch hinzufügen: Sex macht mich verletzlich, mehr als alles andere auf der Welt, weil ich mir dabei
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