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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilly Lindner
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die Luft wird wärmer, die Tage werden wieder länger, und ich brauche abends nicht mehr drei Heizkissen neben meinem Körper, um einschlafen zu können. Vor ungefähr einem Jahr hatte ich meinen ersten Kunden. Vor ungefähr einem Jahr habe ich angefangen zu vergessen, dass es einen anmutigeren Ort auf der Welt zum Balancieren gibt als den Strich. Denn auch wenn ich nicht auf »den Strich« gehe – ich stehe an dem gleichen Abgrund wie all die überschminkten Mädchen in ihren hochhackigen Stiefeln.
    »Felia«, sage ich zu meinem Spiegelbild.
    Und mein Spiegelbild lächelt mich an, als hätte es nie anders geheißen.
    »Lilly!«, sagt Lady hingegen zur Begrüßung. »Lilly!«
    Sie ist endlich wieder zurück in Berlin, mit kürzeren Haaren und weniger Lippenstift. Einen langen Augenblick drückt sie mich an sich, und ich halte mich fest an ihrem vertrauten Duft.
    »Du lernst Hailie kennen, sobald sie sich eingelebt hat«, verspricht Lady.
    Und dann drückt sie mir eine Tafel schwedische Schokolade in die Hand.
    Schokolade.
    Ich trete einen Schritt zurück.
    »Du musst sie nicht essen, Süße«, sagt Lady. »Aber nimm sie an. Es ist ein Geschenk. Kein Tausch gegen deinen Körper. Okay?«
    »Okay«, sage ich.
    Und trete einen Schritt nach vorn.
     
    Es riecht nach blühendem Gras und den ersten Blumen, also nehme ich mir die Kinder und mache mit ihnen eine Schatzsuche im Tiergarten. Anschließend picknicken wir auf unserer geheimen Piratenlichtung, und ich esse fünf Erdbeeren, fünf Nüsse und sieben Salzstangen. Dann warte ich darauf, dass die Stimmen in meinem Kopf anfangen, mich zu beschimpfen, und Ana sich mit mörderischem Blick auf mich stürzt. Aber nichts dergleichen passiert; mir wird nicht einmal schlecht.
    Nachdem ich alle Kinder samt ihren Schatztüten wieder bei ihren Eltern abgeliefert habe, spaziere ich übermütig nach Hause. Es ist schon so lange her, seit ich das letzte Mal etwas gegessen habe, ohne mich danach schrecklich zu fühlen.
    Vor lauter Glück melde ich mich für einen Intensivfahrschulkurs an: Fahren lernen in sieben Tagen. Nach fünf Tagen bin ich fertig und warte nur noch auf meine Prüfungstermine. Währenddessen rattert ein Satz, den mein Fahrlehrer mir gleich am ersten Tag gesagt hat, unermüdlich in meinem Kopf hin und her: »Umweltschonende Fahrweise bedeutet unter anderem auch, dass man keine unnötigen Lasten mit sich herumtransportiert.«
    Ich bin nicht dumm, mir ist schon klar, dass er damit gemeint hat, dass ich kein Klavier oder Flachbildfernseher oder drei vollgepackte Umzugskartons in den Kofferraum stellen und dort dann das nächste Jahr über lagern sollte. Aber Ana nickt sofort zustimmend mit ihrem klugen magersüchtigen Köpfchen und sagt: »Siehst du! Vierzig Kilo sind viel zu viel. Das ist umweltbelastend. Wenn du dreißig Kilo wiegen würdest, wäre alles viel besser. Überleg mal, wenn alle Menschen nur noch dreißig Kilo wiegen würde, wie viel Kraftstoff man dann sparen könnte.«
    Ich schüttele den Kopf über so viel Blödsinn. Aber den Rest des Tages verbringe ich trotzdem damit, eine Gurke in fünfzig Stücke zu zerteilen, nur um sie dann doch nicht zu essen.
    Die Schulzeit liegt Jahre hinter mir, ich habe früh aufgehört, Klausuren zu schreiben und Testbogen auszufüllen. Und jetzt, da ich nach dieser langen Zeit wieder für einen Test lerne, stelle ich fest, dass ich noch viel perfektionistischer geworden bin als damals. Den Theorietest mit weniger als hundert Prozent richtigen Antworten zu bestehen kommt für mich nicht in Frage, auch wenn zehn Fehlerpunkte erlaubt sind. Für mich gibt es diese Option nicht, ich muss alle Fragen sicher beantworten können, ich muss den Theoriebogen innerhalb von zwei Minuten und siebzehn Sekunden fehlerfrei ausfüllen können. Ich muss die Antworten ankreuzen können, ohne die Fragen vorher richtig zu lesen.
    Ich esse einen Zwieback.
    Aber meine Gedanken bleiben krank und dusselig. Also blättere ich alle Bogen hoch und runter, bis ich mir sicher sein kann, dass ich sie sogar im tiefsten Koma noch fließend lösen könnte.
    Chase hat einmal zu mir gesagt: »Lilly, du bist eine der intelligentesten Frauen, die ich kenne. Aber manchmal bist du so scheiße dumm, dass ich mich glatt vergessen könnte.«
    Und Lady hat hinzugefügt: »Du bist ein hirntoter Hungerhaken ohne Ambitionen!«
    Ich hätte den beiden gerne versprochen, dass wir demnächst Frieden schließen werden, die Gummibärchen, die Schnitzel und ich. Doch seinen

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