Splitterfasernackt
Brüste bleiben trotzdem da. Und ich weiß, dass ich sie vermisst habe, als sie nicht mehr da waren. Ich liebe es, Frauen mit schönen Brüsten nachzugucken. Aber meine eigenen sind mir fremd, sie gehören nicht mehr zu mir. Ich kann so nicht leben. Ich muss unbedingt wieder aufhören zu essen.
Ana. Ana? Verlass mich nicht.
Wie im Traum wandele ich mit glasigen Augen ins Bad, stelle mich zum zehnten Mal an diesem Tag auf die Wage und beschließe dann, in der nächsten Woche fünf Kilo abzunehmen, damit ich wieder zweiundvierzig wiege. Das ist ein Anfang, dann kann ich mich wieder in Richtung vierzig bewegen.
Dann wird alles gut.
Ja, ich weiß, wir Frauen sind die einzigen Lebewesen, die Intelligenz, Glück und Reichtum in Kilogramm messen können. Und ausgerechnet in dieser Disziplin muss ich auch noch herausragend sein. Genau wie meine Hüftknochen.
Brüste sind gefährlich.
Denn seit ich wieder Brüste habe, verlieben sich noch mehr Männer in mich, dabei habe ich nun wirklich schon genug Herzen angeknackst.
Es reicht nicht zu sagen: »Ich bin nicht Felia.«
Es reicht nicht zu sagen: »Ich bin nicht Lilly.«
Kein Mann will begreifen, dass ich Ana und Mia heiße und dass die Welt so unberührt an mir vorbeirauscht, als wäre ich ein Geschwindigkeitsbeschränkungsaufhebungsschild auf einer vierspurigen Autobahn.
Außerdem will ich niemanden in meinem Leben haben, dem ich ständig erklären muss: »Nein, nein. Ich bitte dich. Nein, mach dir keine Sorgen um mich, ich bin nicht zu dünn, es ist ganz normal, dass meine Hände immer blau sind und zittern. Das trägt man jetzt so – ist modern. Klar. Natürlich könnte ich morgen schon tot sein, aber das ist nicht so schlimm, wie es klingt, verstehst du? Und hast du vielleicht zufällig Rasierklingen dabei? Denn falls du Sex mit mir haben willst, brauche ich die als Notausgang.«
Dabei ist Sex in letzter Zeit gar nicht mehr ganz so grauenvoll. Letzte Woche hat mich einer meiner Lieblingsstammgäste gebucht, ein Mann, der aussieht wie aus dem Modekatalog von Strellson geschnitten. Er hat mich angestrahlt, aus seinen Wahnsinnsaugen, seine Stimme war sexy, und sein Körper wie immer makellos. Er hat seine starken Arme um mich geschlungen und meine Haare zerwühlt – und da konnte ich es auf einmal spüren, mein sonst so müdes Herz, wie es angefangen hat zu schlagen, schneller und immer schneller.
Und das tut es auch in diesem Moment. Es hämmert so heftig gegen meine Brust, dass ich kaum zu atmen wage. Und das alles nur wegen Körbchengröße A. Lady würde mich lautstark auslachen. Aber ich glaube, Lady würde auch noch lachen, wenn gerade jemand versucht sie auszurauben oder zu zerstückeln.
»Guck mal, ich habe wieder Brüste, das fühlt sich komisch an!«, sage ich zu allen Menschen, mit denen ich mich am nächsten Tag treffe.
»Vielleicht ist jetzt endlich alles okay mit dir«, sagt meine Mutter genervt.
»Du könntest ruhig noch ein bisschen mehr zunehmen«, brummt mein Vater.
»Du siehst bestimmt hübsch aus!«, meint Chase, mit dem ich nur telefonieren kann, weil er mal wieder in New York ist und einen Film dreht.
»Wow, endlich kann man dich sehen …«, freut sich Lady.
»Ich hasse dich!«, giftet Ana.
»Oje, oje, oje …«, weint Mia.
»Du hast versprochen, wir würden unsichtbar sein«, flüstert das kleine Mädchen.
Und dann bin ich auch schon wieder am Verschwinden. Zweieinhalb Wochen später bestehe ich meine Führerscheinprüfung und wiege zur Belohnung nur noch einundvierzig Kilo. Mir ist so schrecklich kalt, dass ich meine Tage in der Badewanne verbringen muss, um nicht zu erfrieren, aber dafür sind meine Brüste wieder zart und winzig und kaum noch zu sehen. Es ist eine Kleinigkeit, einen menschlichen Körper zu vernichten.
Ich weine ein bisschen. Vor Freude. Aus Angst. Weil ich verzweifelt bin, weil ich glücklich bin, weil ich weiß, wie krank ich bin, weil ich leben möchte, weil ich lachen möchte, weil die Welt so schrecklich komisch ist. Und weil Lady, die mindestens einmal in der Woche meine Wohnung stürmt, um sich zu versichern, dass ich noch am Leben bin, mich ansieht, mit diesem Ausdruck in den Augen, dass ich mich furchtbar schuldig fühle.
»Verdammte Scheiße!«, sagt sie wütend. »Du siehst schon wieder aus wie ein wandelndes Skelett mit ausgeblichenen Hautfetzen. Vor zwei Wochen hattest du noch Brüste, jedenfalls ansatzweise, ich wollte schon losziehen und dir ein Starter-Set BHs kaufen, aber dann wärst
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