Splitterfasernackt
einem Projekt, dessen Thema lautet:
In meinem Leben.
Jeder, der möchte, kann etwas vortragen, eine Rede halten, einen Film vorführen, eine Diashow machen, was auch immer.
Ich stehe vorne am Pult. Hinter mir, auf der riesigen Leinwand erscheinen nach und nach, jeweils für einen kurzen Augenblick lang, all diese Männer: junge und alte, Männer mit braunen Haaren, mit weißen Haaren, mit schwarzen Haaren, mit blonden Haaren, mit roten Haaren oder Männer mit gar keinen Haaren. Männer mit Bart, Männer ohne Bart, große und kleine Männer, gutaussehende, hässliche, muskulöse, dicke und dünne Männer. Berühmte Männer, unbekannte Männer, freundliche, griesgrämige, schöne, unauffällige, liebenswerte und gefährliche Männer. Väter, Witwer, Ehemänner, Singles, Rapper, Piloten, Kellner, Manager, Broker, Immobilienhändler, Politiker, Schauspieler, Architekten, Fußballspieler, Tänzer, Lehrer, Professoren, Ingenieure, Optiker, Schriftsteller, Drogendealer, Asia-Imbissbesitzer, Techniker, Ärzte, Anwälte und Schornsteinfeger – sie alle sind dabei. Hunderte. Tausende. Ungezählt.
Aus den Boxen der Anlage ertönt erst »Sooner or later« von Switchfoot, dann »I know« von Placebo und zum Schluss natürlich die Stereophonics mit »Maybe Tomorrow«. Dann erscheint das letzte Bild, und die Leinwand wird wieder weiß. Alle gucken mich fragend an. Ich sehe in verwirrte Augen. Mein unschuldiges Lächeln ist noch genauso sanft wie vor zehn Jahren.
Und alles, was ich zu sagen habe zu meinem Leben, alles, was ich noch nicht gesagt habe, aber aussprechen muss, weil es zählt – auch wenn es keine wichtige Summe ergibt, die ich am Ende von irgendetwas abziehen muss, alles, was ich sage, ist: »Mit all diesen Männern hatte ich Sex.«
Ich schäme mich nicht dafür.
Ich blicke nicht zu Boden.
Dieses Mal setzt mir kein Mann einen Stempel auf die Stirn.
Ich sage es mit einem wissenden Lächeln auf dem Gesicht, das nur ich verstehen kann. Denn ich bin die Einzige, die weiß, was ich gegeben habe, was ich bekommen habe, was ich gelernt habe, was ich verstanden habe und was ich getan habe. Ich weiß, dass in meinem Leben alles immer zu hell, zu dunkel, zu laut oder zu leise sein musste, um mich zu erreichen. Ich weiß, dass in meinem Leben Sex jedes Mal nur ein Abkommen mit dem sechsjährigen Mädchen aus meiner Erinnerung sein konnte. Aber am Ende dieses Tages werden wir beide gemeinsam all die benutzten Kondome und die nackten Erinnerungen in eine große schwere Holzkiste werfen, den Deckel fest verschließen, ein dickes Vorhängeschloss davor befestigen und die Schlüssel wegwerfen. Anschließend werden wir uns in die Arme schließen und mit neuen Verhandlungen beginnen.
Was in den Menschen vorgeht, die mich sprachlos ansehen, während ich an ihnen vorbei durch den Vorlesungsraum zur Tür hinausspaziere, weiß ich nicht.
Und ich muss es auch gar nicht wissen.
Denn das Sonnenlicht, das draußen auf mich gewartet hat, umspielt meine weiße Schneewittchenhaut, und eine warme Brise streicht durch mein offenes Haar. Der Weg unter meinen Füßen ist rauh und steinig wie immer, aber ich habe gelernt, auf ihm zu laufen.
13
I ch weine an dem Tag, an dem ich wieder Brüste bekomme. Ich weiß, man bekommt sie nicht von heute auf morgen, sie sprießen nicht aus dem Nichts hervor – aber trotzdem stehe ich vor dem Spiegel, sehe meinen kleinen Busen aus dem BH hervorstehen und bin fassungslos.
Nachdem ich mich zwei Monate lang zusammengerissen habe und wenigstens einmal am Tag eine halbwegs vernünftige Mahlzeit zu mir genommen habe, und zwar ohne mit Ana und Mia an einem Tisch zu sitzen, sehe ich gesünder aus als je zuvor. Ich bin immer noch dünn, ich bin immer noch ziemlich winzig, aber ich habe eindeutig wieder Brüste.
Und dann weine ich. Wie ein kleines verzweifeltes Kind, das gerade verstanden hat, dass man aus jedem Lieblingspullover einmal herauswachsen muss, egal wie schön man die Elefanten darauf findet.
Eine Stimme in meinem Kopf streicht mir sacht über die Wangen, wischt ein paar Tränen beiseite und flüstert mir ins Ohr: »Du bist eine Frau, meine Süße. Du bist eine schöne, selbstsichere und junge Frau. Es ist okay, Brüste zu haben. Es ändert doch nichts.«
Aber für mich ändert es alles.
Alles.
Also weine ich weiter. Meine Brüste fühlen sich weich an. Ich drehe mich zur Seite, sehe die Wölbungen von rechts an, dann von links, zupfe an meinem Top herum, schiebe den BH hin und her. Die
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