Splitterfasernackt
vielleicht hart und eindringlich sein.
Aber niemals so hart und eindringend wie ein Schwanz.
Der in einem kleinen Kind steckt.
Am nächsten Tag klebt ein Brief an meiner Wohnungstür.
»Ich hasse dich!«, steht auf der Karte, die darin steckt. »Drei ganze Jahre habe ich an dich verschwendet, du elende Nutte!«
Zuerst will ich weinen, aber dann erinnere ich mich daran, dass ich so etwas nicht tue. Und kurz darauf komme ich zu dem Schluss, dass ich gar keinen Grund habe, um traurig zu sein. Denn der Fabian, mit dem ich mein Leben geteilt habe, der würde schließlich niemals so etwas Blödes an mich schreiben. Es muss also ein Irrtum sein. Die Post ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Jetzt fälschen die sogar schon Briefumschläge; bestimmt war die Karte eigentlich für ein anderes Mädchen gedacht.
Ich stehe total auf Illusionen. Was man damit nicht alles machen kann. Also bastele ich einen Papierflieger aus der Karte und einen Vogel aus dem Umschlag.
Dann werfe ich beides aus dem Fenster und sehe zu, wie der aufbrausende Wind seine Spiele treibt. Anschließend lutsche ich ein zuckerfreies Brausebonbon und denke an die schönen Tage, die Fabian und ich hatten. Für mich waren es drei wertvolle Jahre, keine verschwendeten – auch nicht im Nachhinein. Also habe ich wohl gewonnen.
Aber wer glaubt, dass Liebe ein Spiel für Gewinner ist, der hat wahrscheinlich sowieso längst verloren.
15
H eute ist der letzte Tag in meinem Leben. An dem ich einundzwanzig bin. Wenn ich heute nicht sterbe, dann bin ich älter geworden, als ich je gedacht hätte. Mein Leben war voll von Sturzflügen, komplett versauten Loopings, absurden Höhenflügen und Wahrheit versprechenden Lügen.
Ich kann beschreiben, wie es ist, im Schatten von lachenden Menschen zu stehen; ich weiß, dass sich Sonnenstrahlen nicht immer warm anfühlen werden auf meiner Haut. Aber ich bin gewachsen in den letzten Monaten, an mir selbst und an den Menschen um mich herum. Ich war so wütend, so traurig, so glücklich, so verloren, und umgeben von so vielen unbedeutenden Schwänzen.
Lady hat einmal gesagt: »Der erste Frühling ist immer der schönste, und der letzte Frühling wird immer der klarste sein.«
Ich denke darüber nach, ich erinnere mich, wie sanft ihre Stimme in diesem Moment geklungen hat, und dann wünsche ich mir, dass mein letzter Frühling erst in vielen Jahren kommen wird. Und noch während dieser Wunsch meine Lippen verlässt, begreife ich, dass ich es wirklich ernst meine.
Sterben. Sterben?
Nein.
Nicht heute.
Weiterleben! Wankend und schwankend, aber immerhin.
Ich öffne meinen Kühlschrank, um etwas zu finden, das mir vorerst eine Gnadenfrist gewähren könnte. Aber der Kühlschrank ist leer, genau wie mein hungriger Bauch. Also trinke ich ein Glas Wasser und kaue auf einer Scheibe Knäckebrot herum. Es ist spät am Abend, und ich würde mich gerne in mein Bett legen und anfangen zu träumen. Aber Träume bedeuten Verlangen und Hoffnung, und Ana hält nichts von dem großen Sehnen.
Selbstmord auf Raten. Das ist Anas Hoheitsgebiet.
Genau aus diesem Grund entschwindet meine unbändige Zeit.
Ana weiß das, Mia weiß das. Sogar ich weiß das. Aber ich bin die Einzige von uns dreien, die darum kämpft, dem Rateneintreiber zu entwischen.
Mein Leben ist schön.
Das weiß ich.
Nicht immer.
Aber in zwei Minuten werde ich zweiundzwanzig Jahre alt.
Ich zähle die letzten Sekunden rückwärts.
Lautlos natürlich, denn ich würde nie meine Stille brechen.
Drei. Zwei.
Eins.
»Happy birthday, Lilly!«, flüstere ich mir zu und halte die Luft an.
Die Zeit geht weiter. Mein Herz klopft, meine Lungen pumpen. Ich bin noch da, ich fühle es. Ganz langsam atme ich ein, spüre, wie meine Lungen erleichtert aufbeben, und dann lächele ich.
Anschließend öffne ich Ladys Päckchen. Ein Buch liegt darin, eingewickelt in dunkelrotes Seidenpapier. Ich entferne behutsam die Tesafilmstreifen und wickele das Papier so vorsichtig ab, als würde ich gleich den Geheimcode zur Ent-Vergewaltigungs-Aktivierung meiner Stammhirnzellen in den Händen halten.
Das Buch, das zum Vorschein kommt, hat einen hellblauen Einband und ist nicht beschriftet. Ich schlage es auf. Leeres Papier, so weit ich blättere. Aber ganz hinten, zwischen den letzten beiden Seiten, steckt ein pinkfarbener Zettel, der mit Ladys unwirscher Handschrift bekritzelt ist: »Dein Buch wird niemals so viele Seiten haben wie du, Lilly.«
16
W enige Tage später
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