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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilly Lindner
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wieder sitze ich sogar gemeinsam mit meinen Freundinnen an dem Wohnzimmertisch und esse ein Stück Kuchen – ohne daran zu scheitern.
    Ich liebe es so sehr, wenn wir wie eine große Familie zusammen sind, Schüsseln und Teller um den Tisch reichen, wenn wir alle durcheinanderplappern, über unsere abgedrehten Kunden lachen, und Wetten darüber abschließen, wann es wieder anfängt, an der Tür zu klingeln. Diese Wärme ist einzigartig, ich habe sie noch nie zuvor gespürt. Bei meinen Eltern am Küchentisch war es kalt und einsam. In der Klinik war es steril und monoton. Im Kinderheim war es chaotisch und brutal. Aber im Passion kann ich aufrecht am Tisch sitzen und der Störung in mir wenigstens für einen Moment Einhalt gebieten.
    In den letzten Wochen war es schwieriger, denn wenn Ana sich zu ihrer vollen Größe ausstreckt, dann kann ich noch so viel mit mir selbst kämpfen, sie macht mich mit einem knochigen Finger platt. Ana kann ein Käsebrötchen mit so viel Verachtung anstarren, dass es einfach verschwindet.
    Und mich natürlich auch.
    Aber an diesem Sonntag bin ich ohne Ana unterwegs. Also teile ich mir mit Amy eine Streuselschnecke und trinke ein Glas Orangenlimonade dazu. Es ist ein Abenteuer. Das letzte Mal, dass ich ein Getränk mit Zucker oder Süßstoff zu mir genommen habe, ist schon ewig lange her.
    Das Klingeln meines Handys reißt mich schließlich aus meinen Limonadenträumereien. Es ist Fabian, mein Ex-Freund.
    »Du scheiß Nutte!«, schnauzt er mich an. »Die ganze Zeit über wolltest du nie mit mir schlafen, und jetzt steigst du mit jedem dahergelaufenen Penner ins Bett! Ich hasse dich! Das werde ich dir nie verzeihen, dass du mich für ein Leben als Hure verlassen hast! Du verdammtes Miststück, ich hoffe, du stirbst alleine!«
    Dann legt er auf.
    Und ich nehme es hin, ohne mit der Wimper zu zucken.
    Es ist mir egal. Denn ich wusste schon immer, dass ich alleine sterben werde. Ich wusste es mit vier Jahren, als meine Mutter zu mir gesagt hat, wie sehr sie mich hasst; ich wusste es mit fünf Jahren, als mein Vater nie da war, und ich wusste es auch mit sechs Jahren, als ich geschwiegen habe aus Angst und vor Scham. Und ja, ich wusste es ganz besonders mit fünfzehn Jahren in der Klinik, dann mit siebzehn Jahren in dem Keller, und als ich mit zwanzig wieder alleine in meiner leeren Wohnung stand, da wusste ich es auch.
    Und heute weiß ich es noch besser als je zuvor.
    Ich war bestimmt keine perfekte Freundin, aber ich war ehrlich zu ihm und immer bemüht. Und ich habe ihn gewarnt am Anfang, ich habe gesagt: »Such dir lieber ein anderes Mädchen zum Verlieben, ich bin nicht leicht zu tragen.«
    Aber er hat erwidert: »Das macht nichts. Ich will dich. Genau so, wie du bist.«
    Doch er hat nichts verstanden.
    Männer reden verdammt viel, wenn der Tag bald vorbei ist, die Dämmerung einbricht und ihr Gegenüber einen aufreizenden Busen oder schmollende Lolitalippen hat. Und irgendwann stehen wir dann schweigend neben unserem Partner, glauben doch tatsächlich, dass Liebe alleine ausreichen würde, und wundern uns, warum nichts passiert.
    Wir Menschen werfen mit den Worten
Ich liebe dich
um uns, als wären sie auch noch von Bedeutung, wenn sie es in Wahrheit gar nicht sind. Ich habe ein Abziehbild davon in meinem Kopf: Männer greifen zu ihren Handys, während sie nackt vor mir stehen, ein benutztes Kondom auf ihrem Schwanz, und dann rufen sie ihre Frauen an, um zu sagen: »Hör mal, Schatz, ich komme heute etwas später von der Arbeit, ich habe noch ungefähr eine Stunde zu tun … ja, mein Engel, ich beeile mich … danke, dass du mit dem Essen auf mich wartest! Ich liebe dich so sehr.«
    Ich liebe dich.
    Und dann wollen sie weiterficken.
    Aber darüber werde ich mir nicht meinen Kopf zerbrechen. Nicht darüber. An mir wurde schon genug verbrochen, von einem Mann. Und außerdem habe ich mir nie einen Prinzen an meiner Seite versprochen, noch nicht einmal einen Frosch. Ich habe Tausende von schleimigen Fröschen im Passion geküsst, und ich habe keine Sekunde lang gehofft, dass einer von ihnen sich in einen Prinzen verwandeln könnte.
    Mein Leben hat mich gelehrt, alleine zu leben. Da kann ich auch alleine sterben. Ich brauche nicht mehr zu weinen, weil meine Eltern mich nicht lieben. Und ganz bestimmt muss ich auch nicht weinen, weil mein ehemaliger Freund die klaffende Wunde in mir nicht zu vermessen vermag.
    Ich bin nicht verletzlich – ich bin schon verletzt.
    Und Worte können

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