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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilly Lindner
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Mein Spiegelbild in einem der Schaufenster unterwegs hätte ich niemals freiwillig angesehen.
    »Was ist passiert – was um Himmels willen ist mit dir geschehen?«, hat Chase gefragt und eine Hand unter mein Kinn gelegt, um mein Gesicht ins Licht zu drehen.
    Aber im Schweigen bin ich unschlagbar.
    Und was hätte ich auch antworten sollen – mein Mund war versiegelt, und mein Hals ein ausgetrockneter, stummer Schrei. Das Licht in Chase’ Flur kam mir greller vor als sonst, ich wollte blinzeln und blinzeln und blinzeln. Aber ich hatte keine Kraft dazu.
    Chase hat irgendetwas gesagt. Und dann noch etwas. Und noch etwas. Aber ich habe kein Wort verstanden.
    Schließlich hat er meinen Arm gepackt und mich in seine Wohnung gezogen. Es war leicht, willenlos zu sein. Darin hatte ich mittlerweile Übung. Ich lerne schnell, wenn man mir ein Messer in die Haut rammt.
    Im Flur hat Chase mich an den Schultern gehalten und gerüttelt, aber er konnte mich nicht zu Bewusstsein bringen. Ich hatte längst vergessen, wie man aufhört, abwesend ins Nichts zu starren. Und als Chase ein weiteres Mal seine Hand unter mein Kinn gelegt hat, um mein Gesicht zu sich zu drehen, da habe ich meine Augen geschlossen, weil ich nicht wollte, dass er das schwarze Loch in mir sieht.
    »Lilly. Lilly, hörst du mich? Was ist passiert, wer hat dir das angetan?«, hat Chase weiter gefragt.
    Seine Stimme war überall, sie war zu laut. So laut, dass meine Ohren weh getan haben. Ich wollte ihm eine Antwort geben, ganz bestimmt, aber es ging nicht. Ich wollte weinen, wenigstens das; Tränen sagen mehr als Worte, aber ich konnte es nicht.
    Chase’ Hand auf meiner Haut hat sich gefährlich angefühlt, seine Berührung war ein bedrohliches Lodern, ich habe gebrannt und gebrannt.
    Dann ist mir schwindlig geworden, und alles war mit einem Mal stockdunkel. Ich habe mich fallen gespürt, ich habe mitbekommen, wie Chase mich aufgefangen hat, wie ich in seinen Armen gelandet bin, hart und sanft zugleich. Es war ein schönes Gefühl. Ich wäre gerne noch ein zweites Mal gefallen, nur um den Moment erneut auskosten zu können, in dem er mich aufgefangen hat und alles andere vorbei war.
     
    Chase hat mich auf sein Sofa getragen, das Geräusch seiner Schritte auf dem Parkettboden hat mich zurück in die Wirklichkeit geholt. Er hat wieder etwas gesagt; so viele Sätze. Sie sind alle ungehört an meinem Ohr verklungen.
    Mein Kopf kam auf einem der Sofakissen zum Ruhen, ich war mir sicher, dass ich mich nie wieder von dieser Stelle rühren würde. Ich wollte angekommen sein. In Sicherheit. An einem sanftmütigen Ort.
    Chase hat weiterhin auf mich eingeredet. Fragen über Fragen. Zumindest kam es mir so vor. Da habe ich genickt – nur so, um ein guter Mensch zu sein.
    Dann war Chase auf einmal weg.
    Und dann war er wieder da.
    Er hat mir ein Glas kühles Wasser an die Lippen gesetzt und gesagt: »Trink.«
    Das habe ich verstanden, und ich war stolz auf mich, weil es nicht allzu schwer war. Chase hat wortlos vor mir gestanden und mir zugesehen, wie ich versucht habe, etwas von dem Wasser zu trinken, ohne mich dabei zu ertränken.
    Dann hat er gesagt: »Ich fahr dich ins Krankenhaus!«
    Und da konnte ich auf einmal wieder reden.
    »Nein«, habe ich gesagt. »Nein, nein …«
    Und es war interessant für mich, meine Stimme zu hören. Sie war fremd. Sie war gedemütigt. Ich wollte sie ausspucken und vor ihr fliehen.
    »Das war keine Frage«, hat Chase gesagt und schon nach meinem Arm gegriffen, um mir beim Aufstehen zu helfen. »Du musst dich untersuchen lassen! Hast du mal in den Spiegel geguckt? Du hast eine riesige Wunde an der Stirn und an deiner Lippe auch, du blutest am Hals, und deine Handgelenke sind schwarz, grün und blau.«
    Da habe ich angefangen zu weinen.
    Und dann habe ich angefangen zu schreien.
    Vielleicht dachte ich, ich könnte auf diese Weise meine fremde Stimme wieder loswerden.
    »Fass mich nicht an!«, habe ich geschrien. »Fass mich bloß nicht an! Ich gehe nicht in ein Krankenhaus! Niemals! Lass mich einfach in Ruhe hier sein. Deshalb bin ich zu dir gekommen, um hier zu sein. Nicht um wieder wegzugehen. Ich bin nicht verwundet!«
    Und dann konnte ich auf einmal nicht mehr richtig atmen. Ich habe es verlernt, von einer Sekunde auf die nächste. Es ging einfach nicht mehr. Vielleicht weil ich fast übergeschnappt wäre bei dem Versuch, mit dem schrecklichen Schluchzen aufzuhören.
    Chase hat meinen Arm losgelassen, als hätte er sich verbrannt, er

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