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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilly Lindner
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in Stücke schlagen. Da habe ich es verstanden, Lilly.
    Doch ich konnte dir kein Wort sagen, ich dachte, ich hätte nicht das Recht dazu, dir dein Geheimnis zu nehmen, bevor du zu mir kommen würdest, um mir davon zu erzählen. Aber du bist nie gekommen, niemals.
    Und als du dann gestern vor meiner Tür gestanden hast, da dachte ich einen Moment lang, ich könnte dich nicht halten. Es war ein Schmerz, den ich nicht kannte. Als du eingeschlafen bist, wollte ich dich eigentlich in ein Krankenhaus bringen, und dann wollte ich losziehen, um den Dreckskerl, der dir das angetan hat, in Stücke zu schneiden. Aber was hätte das geändert? Nichts … oder? Was kann ich nur machen, Lilly, was soll ich zu dir sagen, wie kann ich dich berühren, ohne dich zu verletzen?«
    Ich wusste keine Antwort darauf, und hätte ich eine gewusst, ich hätte sie niemandem gegeben.
    Auch nicht Chase.
    Also war es wieder still um mich herum.
    Totenstill.

2
    S echs Jahre später, weit genug entfernt von diesem Tag, um ihn in meinem Lebensbericht einfach unter den Tisch fallen zu lassen oder ihn bei direkter Konfrontation einfach zu verleugnen.
    Der Herbst neigt sich dem Ende zu, es ist kalt und nass und grau. Die Blätter haben sich längst gelb verfärbt, und wie sie dann in Orange übergewechselt sind, habe ich gar nicht mitbekommen. Aber jetzt, da sie weinrot leuchten oder schon vom Baum gefallen sind, merke ich, dass der Winter bald beginnt.
    Nachdenklich sitze ich auf der Balkonbrüstung vom Passion und friere vor mich hin. Das letzte halbe Jahr war ein einziges Gefühlschaos. Aber wenigstens weiß ich nun mit Sicherheit, dass ich aufhören muss, sofort, weil ich kein Bordellmädchen bleiben kann, ohne den Rest meines Verstandes zu verlieren.
    Aber aufhören, wie soll das gehen? Ich kann noch immer keinen normalen Sex haben, ich bin noch immer ein Bruchstück aus Abertausenden zerstörten Einzelteilen. Dabei wollte ich doch so gerne an den Punkt kommen, an dem das endlich vorbei ist.
    Ich beobachte die Männer, die unter mir die Straße entlanglaufen. Einige blicken hoch zu mir und grinsen, andere gehen einfach weiter und haben keine Ahnung, auf was für einem Balkon ich da sitze.
    Während ich über all den Sex nachdenke, den ich in den letzten Monaten verschwendet habe, fällt mir plötzlich etwas ein: Vergewaltigung verjährt nach zwanzig Jahren.
    Wenn man minderjährig vergewaltigt worden ist, dann hat man ab dem 18 . Lebensjahr noch zwanzig Jahre Zeit, um seinen Peiniger anzuzeigen, danach ist alles verjährt.
    Verjährung. Das klingt gut. Mein neues Lieblingswort.
    An meinem achtunddreißigsten Geburtstag ist also alles verjährt.
    Wie weggeputzt, davongetragen, vergessen, verziehen.
    Ungültig. Verfallen. Dann bin ich also geheilt.
    So muss es sein, nicht wahr?
    Denn alles andere wäre unfair. Gegen die Spielregeln.
    Verjährung – die beste Ausrede überhaupt. Wenn mich später einmal jemand fragt, wie es mir so gehen würde, ob ich noch Angst hätte vor ungefähr jedem dritten Mann, ob ich beim Sex noch immer die Luft anhalten müsste und ob ich dabei weiterhin die Sekunden zählen würde, dann kann ich ganz gelassen antworten: »Es geht mir sehr gut! Ehrlich! Und vielen Dank für die detaillierte Nachfrage … Ja, keine Sorge, die schlechten Erinnerungen kommen bestimmt nicht wieder in mir hoch, denn die Vergewaltigung ist mittlerweile verjährt. Ich kann jetzt auch Sex haben, ohne dafür bezahlt zu werden. Cool, oder? Wer hätte das gedacht.«
    Cool ist ein Wort, das man in jedem Satz benutzen sollte, in dem man so tut, als wäre man nie vergewaltigt worden, es klingt lässig und unzulässig zugleich. Es lenkt ab von der splitterfasernackten Wahrheit.
    Tag der Verjährung, mein bedeutendster Feiertag. Ich muss also nur die Zeit bis dahin überbrücken: Sechzehn Jahre, das kann doch nicht so schwer sein. Andere Menschen werden neunzig oder hundert Jahre alt, und wer weiß, wie viele von denen auch Verjährte oder Verjährer sind.
    Zeit – davon habe ich noch genug übrig.
    Bis sie vorbei ist jedenfalls.
    Zeit, um kein Bordellmädchen mehr zu sein. Zeit, um den verruchten Räumen zu entfliehen. Zeit, um ein paar Fehler weniger zu machen.
    Aber wenn ich das Passion verlasse, dann möchte ich trotzdem Männer um mich haben, die mich mit ihren faszinierten Blicken anstarren und meinen Körper mit ihrer Sorgfalt bedecken. Irgendwer muss ja da sein, um mir regelmäßig zu sagen: »Ich kann dich sehen. Dich und deinen Körper.«

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