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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilly Lindner
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steckten beide in mir fest und wussten nicht miteinander umzugehen. Vielleicht lag es an der undurchsichtigen Wand, die mich von meinem Wesen trennte. Ich denke, so etwas passiert einfach.
    Wenn ein Schwanz deine Seele durchstößt.
    Irgendwann, nach einer Ewigkeit, war ich erschöpft vom zu vielen Weinen. Mein Hals war wund und trocken, Chase’ Herz hat geschlagen, so nah an meinem Ohr. Die Welt wurde schummrig, erst grau, dann schwarz, dann irgendetwas dahinter. Und das Letzte, was ich zu Chase gesagt habe, bevor ich in seinen Armen in einen unruhigen Schlaf gefallen bin, war: »Alles, was aus mir noch geworden wäre, werde ich jetzt nie erfahren, nicht wahr?«
     
    Das helle Sonnenlicht, das durch die Fenster hindurch auf mein Gesicht fiel, hat mich aufgeweckt. Ich lag in Chase’ Bett, unter seiner riesigen blauen Entenfederdecke, und er saß neben mir auf einem Stuhl, als wollte er Wache halten. Seine Hände waren ineinander gefaltet und seine Ellbogen auf den Oberschenkeln aufgestützt, sein Blick ruhte auf mir. Ich hatte Chase nie zuvor mit diesem Ausdruck in seinen Augen gesehen, und ich könnte ihn niemals beschreiben. Ich weiß nur noch, dass dieser Blick mich durchstochen hat, so sehr wie nie wieder irgendetwas. Bis heute ist Chase der einzige Mann auf der Welt, der mich anfassen kann und hochheben, ohne dass ich davonlaufen möchte. Weil er alles von mir gesehen hat, alles. Und weil er der Einzige war, der den Schmerz in mir toben gehört hat – ungeschnitten, nicht synchronisiert, in den grässlichsten Farben.
    Mein Mund war ausgetrocknet, meine Nase verstopft und meine Wangen aufgeraut von den salzigen Tränen. An meinem Hals hat etwas geziept und gebrannt, und als ich mit meinen Fingerspitzen vorsichtig danach getastet habe, waren da Wundnahtstreifen über eine lange Schnittwunde geklebt. An meinen Handgelenken waren weiße Verbände, die nach irgendeiner Salbe rochen, und auch an meiner Stirn waren Nahtstreifen angebracht.
    Ich habe die Zimmerdecke angesehen, ich bin der feinen Stuckverzierung mit meinen Augen auf und ab gefolgt, hin und her, immer wieder vom Anfang bis zum Ende. Chase saß währenddessen einfach nur so da, und wir haben beide für eine lange Zeit kein einziges Wort gesprochen. Denn was hätte ich schon erzählen sollen? Was sagt man in solchen Momenten?
    Nichts.
    Gar nichts.
    Man nutzt viel eher die Stille, um abzuwägen, ob man überhaupt jemals wieder sprechen wird oder für immer verstummen muss.
    Irgendwann ist Chase schließlich aufgestanden, hat sich zu mir auf das Bett gesetzt und nach meiner Hand gegriffen.
    »Ich war noch nie so wütend«, hat er dann leise gesagt. »Mich hat noch nie etwas so rasend gemacht und so hilflos. Ich bin nicht gut darin, danebenzustehen und nichts machen zu können. Du bist der Mensch in meinem Leben, für den ich schon immer jede Last tragen wollte. Als ich dich damals im Kindergarten gesehen habe und du fast geweint hättest, weil deine Mutter dich abgeholt hat und sich das Bild mit der Katze, das du extra für sie gemalt hattest, nicht ansehen wollte, als du deine Augen zusammengekniffen hast, weil du nicht weinen wolltest, weil du stark sein musstest – schon damals, da wollte ich einfach nur derjenige sein, der dir verrät, dass du irgendwann erwachsen sein wirst und dass deine Eltern dich nicht brechen werden, ganz egal, was sie zu dir sagen und wie selten sie dich in den Arm nehmen. Du hattest immer dieses Leuchten in deinen Augen, sogar wenn du traurig warst. Du hast immer so viel Wärme in jedes noch so blöde Turmbastelspiel gesteckt, als wolltest du dir selbst beweisen, dass du weißt, was Liebevoll-Sein bedeutet, auch wenn du es nicht erfahren durftest. Und du hast mir nie ein Wort gesagt während der Zeit, in der dein Nachbar dir all diese Dinge angetan hat. Ich habe dein Schauspiel nicht durchschaut. Ich dachte, du seist unglücklich wegen deiner Eltern. Ich dachte, nur sie seien diejenigen, die dir dein Leben zur Hölle machen würden; ich hatte keine Ahnung, was mit dir geschah. Das habe ich erst viel später verstanden, als du dreizehn Jahre alt warst und diesen eisigen Ausdruck in deinem Gesicht hattest, wenn sich deine Freundinnen über ihre ersten Küsse und ihre Freunde und Sex unterhalten haben. Ich habe dich beobachtet, wie du danebengestanden und ins Leere gestarrt hast. Wie du jeder Berührung ausgewichen bist, wie du deinen Körper bewegt hast und wie du dein Spiegelbild angesehen hast, als würdest du es am liebsten

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