Splitterfasernackt
funkelnden Lipgloss aus meinem Gesicht.
Er lässt heißes Wasser in die Badewanne einlaufen, und ich sehe dabei zu, wie der Schaum sich knisternd zu kleinen Bergen auftürmt und wie die winzigen Seifenbläschen leise puffend zerplatzen. Dann hebt er mich über den weißen Badewannenrand, und ich gleite in das schaumbedeckte Wasser. Die Wärme umfängt mich und spült einen Teil der schrecklichen Schmach von meinem Körper. Ich fühle, wie das verkrustete Blut in meinen unzähligen Wunden sich langsam auflöst, bis es einfach verschwunden ist.
In dieser Badewanne treibt kein Floß.
Mein Horizont ist ungebrochen. Ich werde nicht ertrinken.
Und jemand wird da sein, wenn ich aufwache.
Schließlich wickelt er mich in ein Handtuch, das so groß ist, dass es mich bis zu den Knöcheln verhüllt, und ich fühle meine nassen Haare in meinem Nacken kribbeln sowie das sanfte Pochen meines Herzens unter meiner aufgewühlten Haut. Ich schnuppere den Duft von frisch gewaschenen Handtüchern und dem Rosenschaumbad.
Und dann, auf einmal, wird aus diesem fremden Wesen, von dem ich die ganze Zeit über geschrieben habe, aus all diesen Einzelteilen, der leeren Hülle, dem fremden Körper und den rastlosen Stimmen – aus all dem, da werde auf einmal wieder ich.
Ich. Lilly.
Wie oft habe ich mich unterwegs verloren.
Wie oft habe ich mich achtlos liegen lassen und bin geflohen.
Aber an diesem Tag bleibe ich bei mir. Und streiche sanft über mein blasses Gesicht.
Er kommt einen Schritt auf mich zu.
Er. Ein Mann.
Aber an diesem Tag weiche ich nicht zurück.
Denn vielleicht, wenn ich alles richtig mache, schließt meine Welt ihre Lücken.
Und dann vergebe ich mir meine Fehler.
Und dann verstehe ich: Es ist okay abhandenzukommen.
Einstweilen jedenfalls.
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NACHSPIEL
1
C hase war der Erste, dem ich es gesagt habe, damals, mit siebzehn, noch an dem Abend, an dem ich davongekommen bin. Nachdem mein Floß davongetrieben war und mein Körper sich in ein schmutziges Stück Fleisch verwandelt hatte, dachte ich mir, dass ich meinen Mund öffnen müsste, um nicht vielleicht noch im Nachhinein zu sterben. Um nicht verschlungen zu werden von der hungrigen Nacht.
Ich wollte zu meiner Mutter gehen, ich wollte, dass sie mich festhält und mir über die Haare streicht, so, wie man es mit einem kleinen Kind macht, das Trost braucht. Aber ich wusste, so würde es nie sein.
Die fremde Zeit war unbarmherzig.
Sie stand zwischen mir und dem Leben.
Ich hätte für immer erstarrt in dem Keller bleiben oder in der Badewanne ertrinken können. Aber ich wollte nicht das Opfer sein.
Deshalb bin ich aufgestanden und habe mich auf den Weg zu Chase gemacht. Die Schmerzen waren unnachgiebig und bohrend. Doch in dem Dröhnen, das mich umhüllt hat, habe ich auf einmal verlernt, sie wahrzunehmen. Meine Beine zu bewegen kam mir vor wie ein sinnloser Kampf. Wie ich es geschafft habe vorwärtszukommen, die Treppen hinunter, zur Tür hinaus, die Straßen entlang, vorbei an fremden Gestalten, vorbei an Männern, vorbei an Monstern, und dann weiter die Treppen hinauf zu Chase’ Wohnung – ich weiß es nicht mehr. Meine Haare waren noch nass vom stundenlangen Baden, sie lagen schwer auf meinen Schultern. Und während ich lief und lief, hatte ich das Gefühl, jeder einzelne Mensch auf meinem Weg würde mich anstarren; mich und den Stempel auf meiner Stirn.
»Sei da, sei da, sei bitte da …«, habe ich gebetet, während ich meinen zitternden Finger auf Chase’ Klingelknopf gedrückt habe.
Und er war da.
Er hat die Tür geöffnet, und ich habe einfach dort gestanden und ihn angesehen. Ich konnte mich nicht rühren, nichts sagen, denn im gleichen Augenblick, in dem Chase vor mir auftauchte, verlor ich den Faden zu meinem Leben, zu einem Halt, zu dem Punkt, an dem alles zusammenläuft und ein menschliches Ganzes formt.
Meine Augen waren müde, ich wollte sie offen halten, ich wollte mit wachem Blick der Welt entgegensehen, nicht davondriften, nicht vergehen. Aber sie kamen zum Stillstand. Meine Pupillen krallten sich fest an einer Stelle rechts neben Chase’ Gesicht, an seinem Türrahmen. Dort blieb mein Blick gefangen; nur aus den Augenwinkeln sah ich den Rest von mir.
Der Rest ist das, was übrig bleibt.
Und ich war der letzte Rest.
Chase hat mich angestarrt. Es war ein seltsames Gefühl, denn auf einmal ist mir bewusst geworden, wie ich aussehen musste. Bis zu diesem Augenblick hatte ich nur die Schande gespürt und das dumpfe Rauschen.
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