Splitterfasernackt
Badezimmer, ein Wohn- und ein Schlafzimmer und eine tolle Aussicht auf die Reuss warten dort auf mich.
Kurz darauf bin ich endlich alleine in der Wohnung und habe eine Verschnaufpause von dem vielen menschlichen Kontakt.
Ausnahmsweise verliere ich mich nicht in Gedanken und fange stattdessen an, meinen Koffer auszupacken, bis mich aus dem Nichts eine wütende Person anrempelt, und zwar so heftig, dass ich mit dem Kopf voraus gegen den Schrank krache.
Ich bekomme den Schreck meines Lebens. Aber es ist nur Ana, die mich überaus freundlich daran erinnern möchte, dass ich gefälligst noch zu erbrechen habe. Wir seien hier ja schließlich nicht im Ferienparadies.
»Schon gut«, sage ich zu ihr, »ich habe es nicht vergessen.« »Schon gut?«, zischt Ana wütend. »Nichts ist
gut,
wenn du frühstückst!«
Ich flüchte vor ihrem funkensprühenden Blick ins Badezimmer, und da ich nicht weiß, wie dünn die Wände sind, mache ich auf dem Weg dorthin noch schnell die Musik an.
Mia umarmt mich, als ich anschließend auf den Fliesen sitze, und Ana steht mit verschränkten Armen daneben und betrachtet nachdenklich ihr verzehrtes Spiegelbild.
Nachdem ich meine restlichen Sachen in die Regale und Schränke geräumt habe, schiebe ich den Koffer unter das Bett und stecke alle meine neuen Handys zum Aufladen an ihre Stationen. Kaum bin ich damit fertig, klingelt Lisa an der Tür, um sich zu verabschieden.
»Schade, dass ich heute schon nach Berlin zurückfliege«, sagt sie. »Ich hätte gerne noch ein bisschen mehr Zeit mit dir verbracht … aber du kannst dir ja auch ein paar schöne Tage mit Isabella machen.«
»Ja, das mache ich, und wir beide sehen uns dann in zwei Wochen in Berlin«, erwidere ich und umarme sie. »Komm gut nach Hause, ich hoffe, du hast einen ruhigen Flug.«
»Ganz bestimmt«, antwortet Lisa und steigt kurz darauf zu Urs in den blitzblank geputzten schwarzen Ford.
Dann winkt sie mir noch einmal zum Abschied zu, und ich blicke dem davonfahrenden Auto nach, bis es hinter einer Straßenkurve aus meinem Sichtfeld verschwunden ist. Anschließend lasse ich mich auf eine der Treppenstufen vor meiner Eingangstür sinken und stütze den Kopf auf meine Knie. Die Luft riecht nach Wiesen und Wasser, ein leichter Nebel liegt über der Reuss, und ich frage mich, wann ich wohl das letzte Mal Nebel gesehen habe – wahrscheinlich als Kind.
Erst als es anfängt zu regnen und meine Kleider beginnen durchzuweichen, gehe ich wieder in die Wohnung. Da merke ich auf einmal, wie schrecklich kalt mir geworden ist und dass meine Hände blau und violett angelaufen sind. Ein Zittern durchbebt meinen Körper, aber ich verschwende kaum einen Gedanken daran; nach Jahren mit Ana und Mia gewöhnt man sich an so etwas. Man wundert sich nicht mehr darüber, man bekommt keine Angst davor, man wird nicht einmal unruhig. Im Gegenteil: Es ist der schwindende Körper, der so drängend vom Dasein spricht.
Damit ich nicht vollkommen schlumpfblau anlaufe, nehme ich mir ein großes Handtuch aus dem Regal und lege es vor dem Heizlüfter im Badezimmer auf die Fliesen. Dort lasse ich mich nieder und streiche mit kalten Fingern über meine aufgeraute Gänsehaut, während die warme Luft meine Haare zerwühlt und mir künstliche Geborgenheit spendet.
Zwischendurch werfe ich einen Blick auf die zwei Schweizer Handys, das eine ist für die Zeitungswerbung und das andere für die Internetanzeigen. Was soll ich eigentlich machen, wenn niemand bei mir anruft oder keiner vorbeikommen möchte? Wer will schon mit einem hellblau angelaufenen Mädchen schlafen?
Gott, ich bin ein wandelnder Haufen voll Unsicherheiten und Essphobien. Zum Glück war ich so vorausschauend, meine Rasierklingen zu Hause zu lassen. Wenn andere Menschen einen Fehler machen, dann vergessen sie, den Wasserhahn richtig zuzudrehen, und setzen aus Versehen ihre Wohnung unter Wasser. Aber wenn ich einen Fehler mache, dann setze ich meine Wohnung unter Blut.
Doch meine Sorgen werden mit einem Schlag wie weggewischt, als die beiden Handys mit einem Mal anfangen zu klingeln und zu klingeln, so dass ich mit dem Beantworten gar nicht mehr nachkomme.
Eine halbe Stunde später habe ich auch schon meinen ersten Gast. Und zwei Stunden später den zweiten. Dann den dritten, schließlich den vierten, und so geht es weiter bis zum Abend. Dermaßen weit entfernt vom Jungfrausein war ich noch nie. Und nach dem ersten Schock beschließe ich, meine Arbeitszeit wesentlich zu reduzieren, damit
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