Splitterherz
die uns für willige Opfer hielten.
Nein. Im Vergleich zu Colin wirkten alle anderen Jungs, denen ich bislang begegnet war, wie Hampelmänner.
Die Versuchung war groß, sofort aufzuspringen und Colin zu besuchen, um all meine Fragen zu stellen, doch ich hatte ihm mein Wort gegeben. Es war vielleicht klüger, es zu halten, auch wenn mir immer noch nicht einleuchten wollte, warum ihm so viel daran lag.
Also musste ich sehen, dass ich auf eigene Faust weiterkam und die Abwesenheit meiner Eltern so gut wie möglich nutzte. Mit eingezogenem Kopf kletterte ich die schmale Stiege hinunter. Ich blickte mich rätselnd um. Wo sollte ich beginnen? Mein Unterfangen erschien mir aussichtlos. Die Zustände in unserem Keller lehrten selbst einen Hausbesetzer das Fürchten. Dabei war Papa beinahe ein Pedant und Mama schuf höchstens organisiertes Dekochaos mit System. Aber das hier? Es passte nicht zu ihnen. Als sollte es mich verjagen, bevor ich auch nur einen Schritt gehen konnte.
In der Ecke stapelten sich Koffer und Taschen zu einem graublau-grünen Haufen, daneben sorgte die Weihnachtsdeko für rotgoldene Akzente. Der Kellerschrank war zum Bersten voll mit alten
Klamotten, Schallplatten, Fotokisten und Videokassetten. An der Wand wuchsen die leeren Umzugskartons bis zur Decke. Teppichrollen lagen kreuz und quer im Raum. Dann war da noch Omas riesige alte Bauerntruhe. Ich wusste genau, was darin gelagert wurde - palettenweise Einmachgläser, das Fondueset, Glaskaraffen und ihr Silberbesteck, das wir nie benutzten, weil man es ständig putzen musste. Die Truhe hatte früher bei ihr im Flur gestanden. Und wenn sie sich aus ihr bediente und Marmelade kochte, hatte ich oft zugeschaut und ihr anschließend geholfen, die Gläser zu verschrauben. Als ich mir den Weg durch das Chaos bahnte und nicht umhinkam, Kisten und Kartons notdürftig zur Seite zu schieben, stimmte ein Plüschelch im Zentrum des Weihnachtsplunders fröhlich Jingle Bells an. Trotz meiner Spinnenfurcht musste ich kichern.
In einem Anflug von Nostalgie legte ich neben Omas Truhe einen kurzen Stopp ein und wollte den Deckel nach oben ziehen, doch er bewegte sich keinen Millimeter. Ich versuchte es ein weiteres Mal. “Blödes Schissding«, fluchte ich, als mein Finger abrutschte und ich mir den Nagel aufriss. Irgendetwas blockierte das Scharnier.
Ich suchte nach einer Taschenlampe und fand sie neben meinen alten Schulbüchern - bedeckt von Staub und Spinnweben. An ihrem Ende klebte dürr und blutleer eine mumifizierte Spinnenleiche.
Schaudernd wischte ich sie weg und leuchtete die Truhe an. Ich hatte schon immer ein gutes Gedächtnis besessen und an einer Sache hegte ich keinerlei Zweifel: Niemals hatte sich an dieser Truhe ein Zahlenschloss befunden. Wozu auch?
Aber jetzt gab es eines. »Sehr unauffällig, Papa«, murmelte ich. Ob er sich bei der Zahlenkombination ebenso große Mühe gegeben hatte? Ich probierte das Hochzeitsdatum meiner Eltern. Fehlanzeige, Das Schloss löste sich nicht. Hm. Mamas Geburtstag? Nein. Der war es auch nicht. Erfüllt von einem unerklärlichen Respekt gab ich mein eigenes Geburtsdatum ein. Das Schloss schnappte auf. »Oh Mann. Wie einfallsreich«, sagte ich beschämt. Ganz korrekt war das ja nicht, was ich hier trieb. Andererseits, redete ich mir trotzig ein, hatte ich auch ein Recht zu wissen, was Papa in seiner Freizeit so machte.
Ich stemmte den wuchtigen Deckel nach oben. Der Blick in das Innere der Truhe mündete in einer herben Enttäuschung. Ich fand nichts außer einem schweren Safe - und mit Zahlenkombinationen kam ich hier nicht weiter. Ich brauchte den Schlüssel. Wo konnte der nur sein? Höchstwahrscheinlich in Papas Hosentasche. Trotzdem rüttelte ich probehalber an der Safetür. Möglicherweise hatte er in der Hektik seines Aufbruchs vergessen, sie korrekt zu schließen.
»Elisabeth? Was tust du da?« Blitzschnell zog ich meine Hand zurück. Der Deckel der Truhe sauste nach unten. Im letzten Moment brachte ich meine Finger in Sicherheit. Es gab einen lauten Schlag und das Schloss fiel rasselnd zu Boden.
Mein Vater stand nur wenige Schritte hinter mir - wie lange schon, wusste ich nicht. Finster ragte seine wuchtige Gestalt vor mir auf. Ich konnte sein Gesicht im Gegenlicht der Glühbirne, die hinter ihm an der Decke schwankte und seinen riesigen Schatten über die Wände jagte, nicht erkennen.
Doch das brauchte ich nicht, um zu wissen, dass er vor Zorn bebte.
Ich versuchte gar nicht erst
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