Splitterherz
bedeutsam. Stattdessen legte ich die Hand auf mein Herz.
»Es geht um mich«, sagte ich tonlos. Dann drehte ich mich um und lief auf mein Zimmer. Oben angekommen warf ich mich er- schöpft auf mein Bett. Ein protestierendes Quieken zeigte mir, dass ich nicht alleine war. Verknittert schob sich Mister X’ pelziges Gesicht unter der Decke hervor.
»Du schon wieder«, murrte ich. Gewichtig setzte er sich auf meine Brust und blickte mich durchdringend an.
»Was ist?«, fragte ich gereizt, doch dann fiel mir sein Halsband auf. Ein rubinrotes Lederband mit einer kleinen Metallhülse. Ich öffnete sie und zog ein dünnes, gerolltes Papierchen heraus.
»Versöhne Dich mit Deinen Eltern. Ich bin einige Tage mit Louis unterwegs. Mister X mag am liebsten Fisch.«
»Ach, wirklich?«, brummte ich spöttisch. Auch das noch. Colin war weg. Meine Eltern erkannten mich nicht wieder. Und ich hatte einen aufdringlichen Kater zu versorgen.
Ein Urlaub auf Ibiza war tatsächlich wesentlich einfacher.
Ich schob Mister X zum Fußende, drückte mein glühendes Gesicht in Colins Kapuzenjacke und wartete darauf, dass meine Eltern heraufstürzten und mir bitterste Vorwürfe machten.
Aber sie kamen nicht. Ich flüchtete in einen schalen, einsamen Schlaf.
Metamorphose
Ich konnte mich nicht erinnern, jemals einen so unangenehmen Auftakt meiner Sommerferien erlebt zu haben. Wenn ich nicht umhinkam, mit meinen Eltern zusammen am Tisch zu sitzen, schwiegen wir uns an - Papa kalt und eisern, Mama mit Leichenbittermiene, ich mit gesenkten Augen. Zwischen den Mahlzeiten beobachteten sie mich auf Schritt und Tritt. Es kam beinahe einem Erlebnisurlaub gleich, als ich Mama gegen Ende der Woche in den Supermarkt begleiten durfte und andere Menschen zu Gesicht bekam.
Den Rest der Zeit verbrachte ich damit, über meinen Colin-Notizen zu brüten, mir zu überlegen, was in seiner Welt - die angesichts seiner beachtlichen Lebensdauer sicherlich andere Kategorien pflegte als ich - wohl »einige Tage« bedeuteten. Eine Woche? Oder eher ein bis zwei Jahre? Meine Geduld war bereits nach zwei Nächten erschöpft, denn ich hatte vergeblich darauf gewartet, ihn und Tessa in meinen Träumen zu Gesicht zu bekommen.
Doch je mehr ich über die Ereignisse der vergangenen Wochen nachdachte, desto sicherer wurde ich mir, dass es keine Zufälle gab in diesem düsteren Spiel. Colin hatte mich vom ersten Tag an bemerkt. Und heimgesucht. Wie er schon gesagt hatte: die Torte hinter der Glasscheibe. Wie doppeldeutig, dachte ich. Ich wusste nicht, ob diese Erkenntnis mir unheimlich war oder ob sie mich in meinem Vorhaben, Colin möglichst bald wiederzusehen, bestärkte.
Er hatte behauptet, alles versucht zu haben, damit ich das Interesse an ihm verlor. Und das stimmte ja auch. Trotzdem waren wir uns immer wieder über den Weg gelaufen. Ich konnte mir schlecht vorstellen, dass das alles Puzzleteile eines perfiden Plans sein sollten, der zum Ziel hatte, mich meiner Gefühle und Träume zu berauben, wie Papa mir einreden wollte. Nicht jeder Mahr konnte einen solchen Aufwand betreiben, um sich zu ernähren. Sie wären alle längst verhungert. Aber sicher war ich mir nicht. Und immer wieder gab es Augenblicke, in denen mich die nackte Angst anfiel und ich mich panisch fragte, wie ich jemals heil aus dieser Geschichte herausfinden sollte.
Gleichzeitig fürchtete ich, dass sein Argument, ich bringe ihn in Gefahr und nur deshalb habe er mich von sich ferngehalten, lediglich eine blasse Entschuldigung war. Vielleicht war er mehr Einzelgänger, als er zugeben wollte, und bekam schnell genug von Menschen - vor allem von Menschen wie mir. Ein frustrierender Gedanke. Oder brauchte er einfach Zeit, sich an Gesellschaft zu gewöhnen?
Mister X zog es derweil vor, blasiert auf meiner Stereoanlage zu thronen und sich in den unmöglichsten Momenten Höhlen unter meinen Flickenteppichen zu graben, in denen er flach auf den Boden gepresst auf Lauerstellung ging und meine Knöchel attackierte, sobald ich mich näherte. Denn damit vertrieb ich mir die Zeit: Ich lief in meinem zu großen Zimmer auf und ab, von einem zum anderen Fenster, kreuz und quer, blickte auf das Dorf, das in der Sommerwärme vor sich hin schlummerte, und hoffte, dass ich irgendein Zeichen erhalten würde, das mir sagte: Colin ist wieder da. Gehörte das etwa auch zur vermeintlichen Trickkiste der Mahre - Sehnsucht schüren?
Doch jeden Morgen, kurz vor Sonnenaufgang,
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