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Splitterherz

Titel: Splitterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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zu wehren. Er zog mich direkt nach unten zu den zwei schlafenden Gestalten im Heu, die eine geliebt, die andere verhasst. Einen Lid­schlag lang schaute ich auf Colins glückseliges Gesicht, bevor sich mein Blick verschleierte. Meine Augen waren geschlossen.
    Ich war satt - satt auf eine süße, angenehme und wollüstige Weise wie noch nie zuvor in meinem Leben. Es war ein Zustand, für den es sich zu sterben lohnte. Ich wollte immer so liegen bleiben, das flüs­ternde, duftende Heu unter mir, die Arme von mir gestreckt, das Mondlicht auf meinem Körper.
    »Wer bist du?«, fragte ich mit schleppender Stimme.
    »Wer ich bin?«, raunte sie und presste ihren dünnen und doch so schweren Leib enger an mich. »Ich bin dein Leben. Alles. Ich bin al­les, was du je hattest und je haben wirst.« Auch sie sprach schlep­pend. Sie klang müde, aber zugleich unerträglich stolz und selbst­zufrieden. »Ich bin Tessa, deine Mutter. Ich habe dich erschaffen. Du bist mein Gefährte - für immer und ewig.«
    Ich wollte etwas erwidern, fragen, ja, ich wollte sie anklagen und protestieren, sagen, dass ich eine Mutter hätte. Doch Tessas Geist besetzte immer noch meinen Kopf. Sie wusste, was ich dachte.
    »Nein, sie war nie deine Mutter. Sie hat dich nur geboren. Unter Schmerzen und Qualen. Ihr Menschen seid so - schwach. Schwach und unvollkommen.« Sie lachte höhnisch. Ihre Haare krochen über meine Brust und bewegten sich auf meinen Hals zu, um dort eine rote Schlinge zu bilden.
    Dann gähnte sie genüsslich und legte ihr nacktes Bein um meines. Sie fühlte sich kalt an, doch ich spürte, wie auch meine Blutwärme langsam und unaufhörlich den Körper verließ und Platz machte für eine fließende, energetische Kühle.
    »Du wirst mit mir jagen. Du wirst bei mir sein, Tag und Nacht, Stunde um Stunde, Jahr um Jahr ...«
    Ich drehte meinen Kopf, um sic anzublicken. Doch ihr Gesicht war wie ausradiert. Ich konnte sie nicht sehen.
    Ihr Duft betäubte mich. Ich konnte kaum etwas anderes wahr­nehmen als ihre tiefen, säuselnden Atemzüge, die immer langsamer wurden. Sie war erschöpft. Es musste sie Kraft gekostet haben. Fest wanden sich ihre Haare um meine Kehle. Dann erschlaffte ihr Kör­per, ohne dass die schwelende Energie, die sie umtoste, versiegte. Auch ihre Haare trieben weiter ihr irrwitziges Spiel.
    Ich blieb wach und ergötzte mich an meinen geschärften Sinnen. Die kühle Energie in mir verstärkte sich mit jedem Atemzug. Doch ich musste nicht atmen, wenn ich es nicht wollte. Ich konnte minu­tenlang starr daliegen, ohne Luft zu holen. Es machte mir nichts aus. Allmählich ebbte das Brausen um Tessa herum ab. Ich vernahm wieder andere Geräusche. Menschliche Geräusche. Ich hörte ein Baby in dem Gutsanwesen wimmern - jenem Anwesen, das gut fünfhundert Meter vom Stall entfernt lag. Es träumte schlecht. Es hatte Angst vor der Dunkelheit. Es fror. Es wurde von den Geistern der Kälte und des Hungers heimgesucht.
    Ich ließ meine Sinne weiterschweifen und witterte die süßen, unschuldigen Träume der Gutsherrentochter. Sie hatte sich ver­liebt. Ja, sie liebte, wie man nur lieben konnte, wenn es das erste Mal geschah - jetzt wusste ich, wie es sich anfühlte, und ich wollte davon kosten. Ich musste zu ihr. Ich musste in ihre Träume eintauchen und sie ihrer Gefühle berauben. Ich brauchte sie für mich. Ich hatte Hunger. Entsetzlichen, bohrenden Hunger.
    Schon erhob ich mich. Tessa kicherte im Schlaf, als ich ihre Haare von meinem Hals löste. Sie wehrten sich. »Trink, mein Liebling«, schnurrte sie. »Trink ...«
    Das Stehen kostete mich keinerlei Mühe mehr. Die Schwielen auf meinen Händen waren fast verschwunden, zusammen mit dem rei­ßenden Ziehen der Muskeln in meinen Schultern, das mich jeden Abend gequält hatte. Ich war federleicht und doch so massiv, dass nicht der stärkste Sturm mir etwas anhaben konnte. Ich wurde end­lich das, wozu ich geboren worden war. Das, was die Menschen in mir gefürchtet hatten, was ihnen unheimlich war. Ich hungerte nach Träumen.
    Meine Haare hoben sich an, wippten auf meiner Kopfhaut hin und her und kitzelten mich dabei sacht. Es machte mich wach.
    Lautlos verließ ich die Box. Ich hatte nur noch ein Ziel: das Zim­mer der Gutsherrentochter, ihre federleicht wirbelnden Träume. Pures, sättigendes Glück, vermischt mit süßer Sehnsucht. Es würde nicht mehr lange dauern und ich würde dazu bereit sein, sie mir zu nehmen.
    Ein panisches Wiehern ließ mich in der Bewegung

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