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Splitterherz

Titel: Splitterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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zurück. Was dachte er wohl? Er konnte mir nicht verbieten, in unserem Garten zu sitzen. Nach einigen Minuten, die sich dahinzogen wie eine Ewigkeit, tauchte Mama hinter ihm auf, ließ den Vorhang zu­rückgleiten und fuhr das Rollo nach unten.
    Doch zu wissen, dass ich nicht mehr beobachtet wurde, brachte keine Erleichterung. Bald mischte sich meine Unruhe mit einer Müdigkeit, die ich sonst nur verspürte, wenn ich krank wurde. Und dann ergriff mich urplötzlich eine rasende nachtschwarze Angst. Von einer Sekunde auf die andere fürchtete ich, nicht mehr atmen zu können. Sofort begannen meine Finger zu kribbeln und mein Magen sackte nach unten. Eben noch hatte ich an meinem Eis ge­leckt, das ich mir aus der Kühltruhe geholt hatte, nun war es mir zuwider. Die fruchtige Süße schmeckte auf einmal bitter. Angeekelt warf ich es in die Mülltonne.
    Obwohl mein Körper danach schrie, sich zu bewegen, am besten fortzurennen, wollte ich nur noch in mein Bett kriechen und die Augen schließen. Meine Hände waren schweißnass. Ich sehnte mich nach dem Schlaf wie ein Verdurstender nach Wasser. Ich glaubte, sterben zu müssen, nie wieder Luft holen zu können, wenn ich nur zehn Minuten länger hier draußen sitzen und ins Dunkle starren würde.
    Doch im Bett lastete meine leichte Sommerdecke wie ein Sarg­deckel auf meinem Körper. Mich damit zu trösten, dass meine El­tern in diesem Haus waren, zwei schlafende Seelen nicht weit weg von mir, funktionierte nicht. Ich war der einzige Mensch auf diesem Planeten, völlig verloren und vergessen.
    Immer wenn mein Bewusstsein endlich verschwommen und weich wurde, holte mein wild pochender Herzschlag mich wieder in die schier endlose Nacht zurück. Dann setzte ich mich auf und presste die Hand auf meine Brust, um mich zu vergewissern, dass ich noch atmen konnte. Mit vernichtender Regelmäßigkeit wechsel­ten sich Halbschlaf und Aufschrecken ab, bis ich unverhofft in eine vollkommene Schwärze hinabsank und die Zeit zu existieren auf­hörte.
    Als ich aus dem Nichts auftauchte und meine Augen wieder sahen, hatte ich keinen Körper mehr. Es gab nur noch meinen Geist. Aufmerksam schaute ich mich um. Hier war ich noch nie gewesen - es war ein Stall, das erkannte ich gleich. Um alles besser überblicken zu können, schwebte ich in die Höhe und bewegte mich langsam an der spinnwebverhangenen Holzdecke entlang. An etlichen Stellen brach das Mondlicht durch die Ritzen zwischen den Schindeln und über­zog die Rücken der Pferde mit silbernen Sprenkeln. Ich warf einen Blick aus dem offenen Fenster - ja, es war Vollmond. Hier war Vollmond.
    Obwohl die Decke des Stalls von Löchern und Fugen gezeichnet war, machten die Boxen einen gepflegten Eindruck. Auch die Pferde sahen edel aus - schlanke, hochbeinige Tiere mit schön geschwun­genen Köpfen und großen dunklen Augen.
    Ich vernahm ein zärtliches Raunen. Sofort folgte ich ihm. Vor einer Box, die mit duftigem Stroh ausgelegt war, stand ein junger
    Mann und hatte seine Stirn gegen den Hals einer schneeweißen Stute gelegt, an deren Zitzen ein kaffeebraunes Füllen saugte. Liebe­voll berührte die Stute mit ihren Nüstern die Wange des Mannes und schnaubte leise.
    Jetzt waren beide still, standen nur da, als würden sie den Zauber dieses Augenblicks mit keiner körperlichen Regung gefährden wol­len. Nach einer Weile löste sich der Mann. Er strich dem Pferd be­hutsam über den schlanken Hals, überzeugte sich mit einem prü­fenden Blick, dass es dem Fohlen gut ging, und legte sich dann in einer Box am Ende der Stallgasse ins Heu.
    Die Arme unter dem Kopf verschränkt, schaute er auf die Silber­fäden, die das Mondlicht durch die Dachfugen schickte. Es war Co­lin. Ja, es waren seine Augen, wenn auch runder und weniger schräg. Seine Haut leuchtete zwar hell aus dem Dämmer heraus, aber nicht weiß, und die Ohren waren frei von Ringen. Er trug ein weißes Lei­nenhemd, das mir vertraut vorkam, eine dunkle, abgewetzte Hose und Stiefel. Colins Händen war die harte Arbeit im Stall anzusehen und die Muskeln seiner Unterarme zeichneten sich deutlich unter der Haut ab. Als er sich streckte, knackten seine Gelenke. Er war müde. Seine Augenlider wurden schwer.
    Ein animalischer, gurrender Seufzer neben mir ließ mich herumfahren. Mein Blick verfing sich in einer Flut blutroter Haare, die sich wie ein Vorhang über den Dachbalken legten. Schon begannen die Strähnen sich um das verwitterte Holz zu schlingen. Breitbeinig und geduckt hockte

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