Splitterherz
weitere Holzlatte daran zu befestigen. In seinem Mund steckten vier lange Nägel und um seine Hüften hing ein breiter Werkzeuggürtel. Ansonsten alles wie gehabt: ein Hemd, das definitiv zu weit offen stand, eine schmale Hose, seine verwesenden Stiefel.
Vergeblich versuchte ich, mich stolz aufzurichten, und schoss dann krumm auf ihn zu. Er schaute nicht einmal auf.
»So -« Nein, das klang nicht vorwurfsvoll genug. Ich musste noch einmal Luft holen, und, wenn möglich, ohne dabei zu wimmern. Zweiter Anlauf. »So hab ich mir das nicht vorgestellt! So nicht!«
Ich lupfte mein Shirt und streckte ihm meinen Bauch entgegen. Konnte er die Verletzung aus der Entfernung erkennen?
»Es tut mir leid, Ellie«, sagte er ruhig, ohne den Kopf zu mir zu drehen. Er wusste es also schon. »Ich konnte dich nicht rechtzeitig - herauslösen. Du bist zu neugierig.« Schmunzelte er etwa?
»Zu neugierig! Verdammt, ich könnte sterben. Ich bin nämlich zufällig ein ganz normaler Mensch und ich habe innere Organe, die ordentlich arbeiten müssen, damit ich weiterleben kann, und -«
»Wer so schimpfen kann, stirbt nicht«, unterbrach er mich. »Ehrlich, Ellie. Es tut mir leid.«
Ich verstummte. Die Verletzung tat immer noch scheußlich weh und mein Bauch war so angeschwollen, dass ich meinen Gürtel zwei Löcher weiter stellen musste. Ich konnte nicht einmal mehr die Berührung des T-Shirts auf meiner Haut ertragen.
Colin richtete sich auf und löste seelenruhig den Werkzeuggurt von seinen schmalen Hüften.
Dann trat er rücklings an einen Baum und lehnte sich dagegen.
»Komm zu mir«, sagte er leise. Wieder wunderte ich mich, wie gut ich ihn verstehen konnte, obwohl er seine Stimme kaum erhob.
Er knöpfte sein Hemd auf und zog es aus der Hose. Ein leichter Windstoß wehte es zur Seite. Trotz der Finsternis um uns herum konnte ich seine opalene Haut schimmern sehen - und den Hufabdruck unter seinem kleinen, runden Nabel, ein mattes Spiegelbild meiner blau unterlaufenen Verletzung.
Zögerlich trat ich auf ihn zu. Er streckte seine linke Hand aus und schob mein T-Shirt so weit nach oben, dass meine Wunde freilag. Die rechte Hand ließ er auf der knorrigen Rinde des Baumes ruhen.
Ich wusste, was ich zu tun hatte. Ich fand nur nicht sofort den Mut. Denn die Wunde hatte mich nicht nur verstört. Sie hatte uns auch miteinander verbunden. Wir hatten das Gleiche gefühlt.
Dann tat ich es. Vorsichtig stellte ich mich auf die Zehenspitzen, sodass unsere Verletzungen, seine alte vernarbte und meine frische, sich berührten. Ich erschauerte, als meine heiße, pulsierende Haut auf den kühlen Samt seines nackten Bauches traf. Der Schmerz verschwand mit einem einzigen Atemzug. Ohne hinzusehen, wusste ich, dass auch das Mal verschwunden war. Eine Träne löste sich aus meinen Augenwinkeln und wollte schon auf meine Schultern tropfen, als Colin sie mit der Zungenspitze auffing.
»Jetzt bist du geheilt«, sagte er und schob mich sanft von sich weg. »Hübscher Bauch übrigens«, fügte er trocken hinzu und griff nach seinem Werkzeuggürtel. Verlegen stopfte ich mir mein Shirt in die
Hose. Es war ausgestanden. Kein Bluterguss mehr, keine inneren Verletzungen.
Trotzdem fühlte ich mich immer noch schwach auf den Beinen. Colin war schon wieder damit beschäftigt, weiter an diesem seltsamen Gatter zu basteln, und drehte mir charmant den Rücken zu. Ich setzte mich auf den Waldboden und lehnte mich gegen den Baum. Bequem war das nicht und warm auch nicht. Aber immer noch besser, als zu stehen. Ich musste mich ausruhen.
Als ich die Augen schloss, überwältigten mich die Erinnerungen an Colins Seelenqualen, die im Traum auf mich übergegangen waren. Aber was war mit ihm? War sein Schmerz immer noch so stark, wie ich ihn gefühlt hatte? Oder heilten auch diese Wunden mit den Jahrzehnten?
Womöglich hatte er nie vorgehabt, mich so lange in seine Erinnerungen eintauchen zu lassen. Und immerhin hatte ich es zwischen durch geschafft, mich freizukämpfen - für ein paar kurze, gelähmte Augenblicke, in denen ich wie gefesselt auf meinem Bett gelegen hatte. Aber danach war alles noch viel schlimmer geworden.
Ich wollte nicht, dass Colin mir Tessas Gesicht schilderte. Meine Fantasie war grausam genug und versorgte mich seit dem Aufwachen unaufhörlich mit Visionen filmreifer Schönheiten, mit denen ich mich niemals würde messen können. Frauen mit vollen Lippen, jadegrünen Mandelaugen und Schlafzimmerblick. Nein, Colin sollte gar
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