Splitterherz
lassen.
»Was ist denn plötzlich los mit dir?«, fragte er, als er wieder sprechen konnte, ohne vor Anstrengung zu husten.
Tja. Was sollte ich ihm jetzt sagen? Dass ich gerade versucht hatte, unser Leben zu retten? Wir hatten Colin aufgelauert, Colin bei der Jagd. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ihm das behagte. Und ich wollte mir nicht ausmalen, wie Nachtmahre reagierten, wenn ihnen etwas nicht behagte. Noch immer befielen mich die Visionen des Bullen und ich hatte das widernatürliche Bedürfnis, mit den Zähnen ein Büschel des saftigen Grases auszureißen, das unter uns auf dem Waldboden wuchs. Colin war mir auf einmal so fremd vorgekommen. So - bedrohlich. Es war kaum mehr Menschliches an ihm gewesen. Und doch hatten unsere Gedanken sich genähert, sich gestreift, waren ineinandergeflossen. Ich hatte gesehen und gefühlt, was er geraubt hatte. Vielleicht hatte ich sogar davon genommen, ohne es zu wollen - ja, als hätte ich einem hungrigen Raubtier das Fleisch aus den Klauen gerissen.
»Das war gefährlich«, sagte ich hitzig.
Tillmann hatte sich wieder in der Gewalt. »Vielleicht für ihn, ja«, erwiderte er. »Mann, war das nicht ein geiles Rodeo? So was gibt es sonst nur in den USA ...«
»Tillmann, verdammt, das war kein Rodeo!«
Er hielt inne. Seine schmalen Mandelaugen versenkten sich in meine.
»Was war es dann? Du kennst ihn, oder? Du kennst ihn.« Es war keine Frage mehr.
»Nein«, sagte ich schwach. Das war nicht einmal gelogen. Um Colin kennenzulernen, brauchte man wahrscheinlich gleich mehrere Leben. »Aber es - es sah nicht aus wie ein Rodeo. Finde ich.«
Tillmann blickte mich an, als wolle er mich röntgen. Bevor er in mich dringen konnte und die Wahrheit erpresste, redete ich hastig weiter.
»Ich weiß, wie er heißt und dass er Karate macht und reitet. Ist ein seltsamer Mensch. Aber das ist jetzt auch egal. Ich will nach Hause. Bringst du mich bitte nach Hause?«
Amüsiert feixte Tillmann mich an.
»Das hättest du dir vorher überlegen sollen, Ellie. Ich hab keine Ahnung, wo wir sind.«
»Jetzt nimm mich bitte nicht auf den Arm, es reicht für heute Nacht...«
»Ehrlich, Ellie. Du bist wie eine Bekloppte mitten durch den Wald gerannt. Ich weiß nicht, wo wir sind. Wir müssen warten, bis es hell ist.«
»Oh nein«, jammerte ich und vergrub mein Gesicht in meinen schmutzigen Händen. Ich hatte meine Wasserflasche und die Kekse in dem Versteck an der Wiese liegen lassen, mir war kalt, ich hatte weder Handy noch Uhr dabei - nur einen viel zu neugierigen Teenager, der dachte, Colin sei ein besonders mutiger Rodeoreiter. Rodeo ... Wenn es doch nur Rodeo wäre, dachte ich verzweifelt. Tillmann klemmte die Taschenlampe in die Astgabelung eines Baumes und begann, Zweige und Reisig aufzusammeln.
»Was tust du da?«, fragte ich. Ich klang erbärmlich - genau so, wie ich mich fühlte. Ich hatte noch nie einen hysterischen Anfall erlitten, aber so ähnlich war einem wohl zumute, wenn man kurz davor stand.
»Ich mache ein Feuer«, antwortete er seelenruhig.
»Ein Feuer«, echote ich. »Ein Feuer - Tillmann, es hat tagelang nicht geregnet und du willst mitten im Wald ein Feuer machen? Zünde doch gleich den nächsten Baum an!«
»Entspann dich, Ellie. Ich weiß, wie man Feuer macht, ohne den Wald in Brand zu setzen. Und es geht schneller, wenn du mir hilfst. Ich hab keinen Bock, mir hier den Arsch abzufrieren.«
Ich gab auf. Er machte ja doch, was er wollte. Also folgte ich seinen knappen Anweisungen und sammelte Steine, die er als Brandschutz um die sorgfältig aufeinandergeschichteten Äste justierte. Dann zündete er das Holz mit seinem Feuerzeug an. Zehn Minuten später saßen wir um ein kleines wärmendes Lagerfeuer und blickten mit tränenden Augen in die Glut.
Mit dem Feuer hatte Tillmann ein wunderbares Signal gesetzt - es war Colin nun ein Leichtes, uns zu finden und dafür zu sorgen, dass wir niemandem erzählen konnten, was wir gesehen hatten. Bei jedem Knacken im Unterholz, jedem Windstoß, jedem Rascheln im
Gebüsch fuhr ich zusammen. Und immer wieder musste ich meine grauenvollen Gedankenketten stoppen, die mir fast das Herz entzweirissen. Wenn Colin uns hier packte und sich rächte, an uns seinen rasenden Hunger stillte, den ich mit meiner Teilhabe an seinem Raub möglicherweise erst noch angefacht hatte, würde niemand je erfahren, was uns zugestoßen war. Wir wären spurlos verschollen. Tillmann blickte mich nur skeptisch an, wenn ich den ein
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