Splitterherz
danke für das Spray. Übrigens fluchst du ziemlich viel für ein Mädchen.«
Er drehte sich grinsend um und lief mit eiligen Schritten in Richtung Landstraße. Ich wusste nicht einmal, wo er wohnte.
Zu Hause fand ich alles unverändert vor. Es war geradezu gespenstisch still. Nur die Uhr im Wohnzimmer tickte leise vor sich hin. Nach dem fünften Marmeladentoast und zwei Tassen Kaffee wanderten meine Gedanken von ganz alleine wieder zu Colin. Er hatte uns also laufen lassen. Vielleicht war er auch einfach zu satt gewesen - satt wie Tessa, nachdem sie ihn befallen hatte und er ihre Trägheit zur Flucht nutzte. Aber Colin hatte uns bemerkt. Und das war nicht gut.
Ich dachte an seinen Brief, an diesen beunruhigenden Satz am Schluss. »Ich werde verfolgt.« Wenn es Tillmann war, den er meinte - und das war gut möglich, denn offenbar hatte der sich Colin nicht zum ersten Mal an die Fersen geheftet -, dann hatte ich mich in seinen Augen nun mit dem Verfolger zusammengetan, anstatt mich wie geraten von ihm fernzuhalten. Nicht gerade eine vertrauensbildende Maßnahme.
Der Gedanke, dass Colin mir nun nicht mehr traute, mich vielleicht sogar als Feind sah, war deprimierend. Und immer wieder holten mich Angstschauer von heute Nacht ein. War er denn tatsächlich satt geworden? Oder hatte unsere Gedankenverschmelzung, mein Ahnen seiner Traumbeute, ihn nur noch hungriger gemacht und er wartete nun genüsslich auf den richtigen Augenblick, ihn zu stillen? An mir? Und falls er doch genug hatte trinken können - wie lange würde ein solches Monstrum von einem Bullen ihn satt halten? Seine Träume waren wild und stark gewesen, das hatte ich gespürt.
Ich ging nach oben, setzte mich auf den Badewannenrand und ließ Wasser einlaufen. Mein Pulli und meine Jeans landeten auf dem Boden - die konnte ich kein zweites Mal anziehen. Der Staub war sogar bis hoch zu meinen Oberschenkeln und Oberarmen gekrochen.
Verträumt sah ich dabei zu, wie sich die Schlammklümpchen auf meinem Körper im Seifenschaum lösten und in kleinen grauen Schwaden davonschwammen.
»Colin, es tut mir leid«, flüsterte ich. Zwei, drei heiße Tränen rannen an meiner schmutzigen Wange hinab und tropften in das dampfende Wasser. Ich war so müde, dass ich glaubte, mich nie wieder erheben zu können. Doch nachdem ich die Nacht gerade so überlebt hatte, wollte ich nicht am nächsten Morgen jämmerlich in der Badewanne ertrinken. Als meine Hände und Füße schon schrumpelig wurden, kämpfte ich mich ächzend wieder heraus - der Muskelkater war zurückgekehrt -, wickelte mich in ein Handtuch und legte mich ins Bett.
Vergeblich wartete ich auf ein Flüstern oder ein anderes Zeichen, dass Colin mir verzieh. Auch Mister X blieb fern.
Alleine schlief ich ein, während die Hitze vor den geschlossenen Jalousien flirrte und die Angst verborgen und unschuldig darauf wartete, dass es endlich dunkel war.
Nachtschicht
Feucht streiften die flatternden Stoffbahnen des Paravents mein vom Schlaf erhitztes Gesicht. Alarmiert sprang ich aus dem Bett und begann die Fenster zuzuschlagen. Der Himmel war pechschwarz und es schüttete wie aus Kübeln. Mit einem schweren, wütenden Trommeln peitschte der Regen gegen die Scheiben.
Wie lange hatte ich geschlafen? Ein heftiger Donnerschlag ließ die Erde unter dem Haus erzittern. Ich hatte die Fenster noch nicht geschlossen, da kam mir schon wieder Colin in den Sinn. Colin und sein Traumraub draußen im Wald. Die Stunden, die seitdem verstrichen waren, hatten die Erinnerungen nicht gemildert, im Gegenteil. Der Augenblick, in dem Colin sich umgedreht und uns angestarrt hatte, wiederholte sich in meinem Kopf wie eine Furcht einflößende Endlosschleife. Wie konnte Tillmann nur denken, es sei ein Rodeokunststück gewesen? Oder dachte er das am Ende gar nicht und wollte etwas aus mir herauslocken?
Schaudernd zog ich mir Jeans und T-Shirt über, doch die Gänsehaut auf meinem Rücken verschwand nicht. Schon wieder zuckte ein Blitz. Der Donner entlud sich nur wenige Sekunden später. Ich hätte plötzlich alles dafür gegeben, Mama oder Papa bei mir zu haben, meinetwegen auch Nicole und Jenny. Ich kam mir beinahe wie ein Eindringling im eigenen Zuhause vor.
Seit Stunden war ich nicht mehr unten gewesen und nun überfielen mich grellbunte Horrorfantasien, wild zusammengebastelt aus den wenigen Splatterstreifen, die ich mir bisher widerwillig unter Jennys und Nicoles Diktat angesehen hatte.
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