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Splitterherz

Titel: Splitterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Seine scharfen Eckzähne blitzten in der Schwärze der Nacht auf.
    Nun sah ich sie auch. Es waren Rinder - dunkle, monströse  Schatten mit spitzen Hörnern und mächtigen Köpfen. Kein schwarz-weiß geflecktes Milchvieh, wie ich es von den anderen Weiden kannte. Diese Tiere waren größer und uriger. Weiter hinten auf der Wiese drängten sich ein paar Jungtiere Schutz suchend an ihre Mütter. Doch die drei allein stehenden Rinder vor uns mit ihren markanten, muskulösen Nacken - das mussten Bullen sein. Und uns trennte kein Zaun von ihnen.
    »Was sind das für Kühe?«, flüsterte ich so leise wie möglich. Ich hatte keine Lust, von einem dieser Ungetüme aufgespießt zu wer­den.
    »Heckrinder«, wisperte Tillmann. »Sie wurden den ausgestorbe­nen Auerochsen nachgezüchtet und sollen helfen, das Tal zu renatu­rieren. Sie können ganze Büsche wegfressen. Vor ein paar Jahren stand rund um den Grenzbach noch dichter Wald. Aber der gehört eigentlich nicht hierher.« Wow. Das war ja für Tillmanns Verhält­nisse ein ganzer Roman gewesen.
    »Interessierst du dich für Ökologie?«, fragte ich ihn neugierig.
    »Ich interessiere mich für die Natur. Das ist alles«, entgegnete er mit unüberhörbarem Besserwisserunterton.
    »Und das war es, was du mir zeigen wolltest? Deshalb sind wir den weiten Weg gegangen?«, fragte ich ungläubig. Gut, die Tiere waren Ehrfurcht einflößend und einen Blick wert, aber deshalb noch lange kein Grund, sich nachts stundenlang durch den Wald zu graben.
    »Natürlich nicht«, sagte er nachdrücklich. »Bitte sei jetzt still. Es kann sein, dass es jeden Moment geschieht.«
    Er kniete sich auf den Boden und ließ seine Augen über die Lich­tung schweifen. Was war »es«? Nächtliche Paarungsspiele der Heck­rinder? Wenn er mich deshalb hierhergeschleppt hatte, dann war das nicht nur peinlich, sondern auch ... Eine Bewegung jenseits der Weide stoppte meine Gedanken jäh. Tillmann hob den Kopf.  Be­dächtig wandte er sich mir zu und legte den Finger auf die Lippen. Ich hatte verstanden. Und nicht nur das - ich spürte mit all meinen Sinnen, dass ich jetzt nichts mehr sagen durfte. Irgendwo über un­seren Köpfen, hoch oben in den Baumwipfeln, schrie ein Käuzchen. Weit, weit weg antwortete ein anderes.
    Die Rinder blieben starr stehen, als hätte ein Bann sie versteinert. Nur der Bulle vor uns, das größte Tier von allen, wendete plötzlich mit einer behäbigen, aber vor Kraft strotzenden Drehung seinen Kopf - fort von uns und hin zu dem schmalen, hohen Schatten, der sich aus der Dunkelheit am anderen Ende der Wiese löste. Ein Schatten, dessen geschmeidige Bewegungen sich schon lange in meinen Geist und mein Herz eingebrannt hatten. Ich hielt den Atem an und konnte nicht verhindern, dass ich am ganzen Körper erzit­terte. Es war Colin. Verflucht noch mal. Das war Colin - und ich saß hier mit Tillmann im Gebüsch und beobachtete ihn. War er etwa das, was Tillmann mir zeigen wollte? Aber warum?
    Ich schaute Tillmann an, doch der nahm mich nicht mehr wahr. Seine gesamte Aufmerksamkeit galt Colin, der mit federnden Schrit­ten die Weide überquerte, in undurchsichtigen, fast tänzerischen Kreisen, sodass seine Gestalt immer wieder mit den Silhouetten der Rinder verschmolz. Seine Haare wellten sich im Nacken nach oben und züngelten beständig. Weiß leuchtete sein Gesicht aus dem Dunkel der Nacht heraus. Seine Arme hielt er ausgebreitet, als wür­de er mit seinen Fingerspitzen Botschaften empfangen - Botschaf­ten aus den Seelen der Tiere, die weder vor ihm scheuten noch auf Angriffsposition gingen. Nur die Kälber blökten leise und drängten sich noch enger an ihre Mütter.
    Dann kam Colin direkt vor dem zottigen Bullen zum Stehen, nur wenige Schritte von uns entfernt, Aug in Aug mit dem Urvieh. Er senkte den Kopf, packte das Tier an seinen gebogenen Hörnern und drückte seine Stirn gegen die des Bullen. Wie von einer  geheimnisvollen Macht gezwungen, senkte das Rind sein Haupt. Ich hörte ein leises Grollen und mit einem Schaudern erkannte ich, dass es aus Colins Kehle kam und nicht aus der des Bullen.
    Mit einem einzigen, schwungvollen Ruck hob Colin sich rittlings auf den breiten Rücken seines Opfers und grub seine ausgebreiteten Finger in das dichte Fell. Der Bulle schrie dumpf auf, ein kurzes, fast lustvolles Brüllen, bevor er mit den Vorderläufen einknickte und zu Hoden ging. Als wolle er sich bei ihm bedanken und ihm Trost ver­schaffen, strich Colin sanft über den

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