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Splitterherz

Titel: Splitterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Tillmann abge­schlachtet auf dem Wohnzimmerteppich, mit einem blutbeschmatterten Beil im Rücken. Papa, der sich an den Deckenstreben des Wintergartens erhängt hatte und im Luftzug hin und her baumelte. Vielleicht auch der greise Nachbar von nebenan, aufgespießt auf seinem eigenen Gartenwerkzeug, als mahnendes und bereits ver­wesendes Beispiel für mich. Alles ein Werk Colins bleicher, starker Hände.
    Ich weiß, was du letzte Nacht getan hast.
    Doch ich hatte Hunger. Großen Hunger. Ich konnte schlecht den Rest der Urlaubswoche hier oben verbringen. Im Prinzip war ich mir ziemlich sicher, dass meine Fantasien absoluter Bockmist wa­ren. Aber warum kam mir dann alles so fremd vor?
    Geduckt bewegte ich mich die Treppe hinunter und wagte kaum, die Füße aufzusetzen. Als es draußen erneut krachte, stolperte ich vor Schreck über eine Stufe und stieß mir dabei meinen nackten Zeh. Fluchend humpelte ich in die Küche und drückte den Licht­schalter. Doch es blieb dunkel. Der Strom war ausgefallen. Also auch kein Radio, kein Fernseher, kein Computer. Nichts, was mich hätte beruhigen können.
    Ich kramte die Streichhölzer aus der Küchenschublade und tastete nach dem gusseisernen Leuchter auf dem Wohnzimmersideboard. Nein, keine jugendliche Leiche auf dem Teppich. Doch die Kerzen spendeten nur flackernde Helligkeit und die ständig zuckenden Blitze offenbarten nichts, im Gegenteil, sie erschwerten es mir zu­sätzlich, etwas zu erkennen. Ich sehnte mich nach grellem, künst­lichem Scheinwerferlicht, das jede Ecke ausleuchten und mir bewei­sen würde, dass alles in Ordnung war.
    Ich schnappte mir das Wollplaid aus Mamas Lesesessel und hock­te mich mit angezogenen Beinen aufs Sofa. Die Decke legte ich mir um die Schultern, denn ich fröstelte immer noch. Alle paar Minuten fasste ich hinter mich und betätigte den Lichtschalter. Doch die Lei­tungen waren tot. Konnten Nachtmahre auch das Wetter beeinflus­sen? War das Gewitter sozusagen die Vorhut? Oder war das noch ein ganz normaler Westerwälder Sommer, wie ich vor Nicole und Jenny großspurig behauptet hatte? Möglicherweise war Colin schon auf dem Weg hierher und wollte sich endlich rächen ...
    Das Schrillen des Telefons stoppte meine unseligen Gedanken. Telefon. Wieso funktionierte das Telefon? Ohne mich von der Stelle zu rühren, griff ich ein weiteres Mal hinter mich und drückte den Schalter. Doch die Dunkelheit blieb. Wie versteinert kauerte ich in der Sofaecke. Das Telefon klingelte weiter und mischte sich ab und zu mit dem Donner, der sich anhörte wie ein schwer verwundetes Tier, das nicht sterben wollte und brüllte, um dem Tod zu entrin­nen. Es klingelte zehnmal. Fünfzehnmal. Zwanzigmal. Dann brach es ab. Wer immer das auch war - er hatte Ausdauer.
    Ein Kontrollanruf meiner Eltern? Wenn ja, dann durfte ich nicht drangehen. Aber wenn es nicht meine Eltern waren, wem war es dann so wichtig, jemanden zu erreichen, dass er es derart lange läu­ten ließ?
    Da. Es ging wieder los. Ich begann das Geräusch zu hassen. Es schmerzte in meinen Ohren. Ich schmiegte mich tiefer in die Sofa­ecke und spürte, wie mein Hunger sich schleichend in Übelkeit ver­wandelte. Diesmal dauerte es noch länger, bis der Anrufer aufgab. Ich hörte beim dreißigsten Klingeln auf zu zählen. Sollte ich das Telefon einfach vom Netz nehmen? Aber das war unvernünftig. Vielleicht brauchte ich es, um Hilfe zu rufen, falls ...
    »Oh nein«, wisperte ich. Es klingelte schon wieder. Fast wünschte ich mir, es seien Mama und Papa. Es wäre so tröstend gewesen, ein­fach nur ihre Stimmen zu hören. Vielleicht würden sie mir verzei­hen und einen Flug organisieren, sodass ich nur noch mein  Ibiza-Köfferchen in die Hand nehmen und auf den Taxidienst warten müsste. Und dann würden wir zu dritt italienisches Eis schlecken und ich könnte endlich im Mittelmeer baden. Ich presste meine Hände auf die Ohren. Es nützte nichts. Das Klingeln erschien mir inzwischen fast lauter als die Gewitterschläge, die wie ein Trommel­feuer über das Dorf rasten.
    Dann hielt ich die Ungewissheit nicht mehr aus. Als der nächste Blitz den Raum erhellte, lief ich zum Sideboard und nahm ab.
    »Hallo?«, fragte ich. Meine Stimme klang wie die eines kleinen Mädchens. Winzig, schwach und mutterseelenallein.
    Kaltes Schweigen brandete mir entgegen. Dann vernahm ich ei­nen tiefen röchelnden Atemzug. Stocksteif blieb ich stehen und hielt den Hörer so fest an mein Ohr, dass es wehtat.
    »Hallo - wer ist

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