Splitterherz
hungere. Nimm es mir nicht übel, wenn ich mich kurzfasse. Ich habe seit der Sache mit den Heckrindern nichts mehr gegessen.«
Meine Tränen zählten offenbar nicht als Hauptspeise. Vermutlich waren sie nur ein kalorienarmes Häppchen zur Appetitanregung. So ähnlich wie die Bruschetta beim Italiener. Colin strich sich mit der flachen Hand über sein Gesicht.
»Dein Vater ist ein Optimist. Ein unverbesserlicher Optimist. Was er da vorhat, ist eigentlich der reine Wahnsinn.«
»Der Wahnsinn ist sein Spezialgebiet.«
Colin grinste kurz und fuhr fort, den Blick nach wie vor tiefschwarz auf den finsteren Waldsaum gerichtet.
»Er betrachtet sich als Mittler zwischen den Welten - zwischen den Nachtmahren und den Menschen. Denn er trägt von beiden etwas in sich. Er will, dass wir voneinander profitieren.«
»Profitieren?«, hakte ich verblüfft nach. Colin nickte.
»Einige von uns sind uralt. Tessa ist nicht die Einzige. Ich weiß von Nachtmahren, die im frühen Mittelalter geschaffen wurden. Es kursiert sogar das Gerücht, dass es ein oder zwei Mahre aus der Antike gibt. Tatsache ist aber, dass die alten Mahre über ein immenses Wissen verfügen und die Menschen seit Jahrhunderten aus einem völlig anderen Blickwinkel betrachten. Sie können in deren Seelen schauen und das ist etwas, woran die Psychologen oftmals scheitern. Dein Vater hofft, dass die Mahre mit ihrem Erfahrungsschatz bei etlichen Angelegenheiten helfen und aufklären können - möglicherweise nicht nur in psychologischen Dingen. Sie sind schließlich Zeitzeugen.«
Ja, das war typisch Papa. Aus dem Schlechten etwas Gutes machen. Jetzt wusste ich, wie er das gemeint hatte. Er wollte die Welt verbessern.
»Hat er damit denn eine Chance?«, fragte ich skeptisch. Sicher, der Gedanke an all das, was die uralten Mahre gesehen und erlebt hatten, und erst recht der an ihre Fähigkeiten, die Seelen der Menschen zu durchleuchten, faszinierte mich sofort. Aber wie wollte er das umsetzen?
Colin seufzte. »Das ist alles nicht so einfach. Ich habe nur wenige von den Alten kennengelernt. Tessa reichte mir eigentlich. Doch irgendwann willst du wissen, woher du kommst. Es gibt wohl kaum kompliziertere Verhandlungspartner als sie. Die meisten bleiben in ihrer Entwicklung stehen. Viele schon nach hundert, spätestens hundertfünfzig Jahren. Es ist anstrengend, ständig mit der Zeit zu gehen. Man muss so viel lernen und sich immer wieder neue Fähigkeiten aneignen. Heute mehr denn je. Elektrizität, Telefon, Auto, Fernseher, Computer - das überfordert sie. Manche von ihnen warten noch auf die Postkutsche, wenn sie einen Brief aufgeben wollen. Alles, was sie tun, ist, ausgehungert umherzugeistern, unzufrieden und gierig, und Träume zu saugen. Aber auch das ist schwieriger geworden. Die Menschen besitzen heute zu viel, sind überreizt und übersättigt, zum Bersten voll mit Bildern, Informationen und Eindrücken. Sie bewegen sich kaum mehr, vernachlässigen ihre Körper. Sie träumen nicht mehr viel. Eure Traumwelten stehen vor dem Kollaps.«
»Meine nicht«, widersprach ich leise.
»Nein, deine nicht«, sagte Colin mit einem schwermütigen Lächeln. »Nicht mehr. Deshalb sitzen wir hier.« Glühend sah er mich an. Es raubte mir den Verstand.
»Moment ...«, murmelte er, erhob sich, und ehe ich reagieren konnte, stand er neben dem Brunnen und streifte sich das Hemd über den Kopf. Oh bitte, nicht wieder. Verzückt starrte ich auf seinen nackten Oberkörper. Colin beugte sich vor und klatschte sich das eiskalte Wasser ins Gesicht und auf seinen Nacken. Dann tauchte er den Kopf ganz unter. Ich blinzelte. Der Brunnen lag verlassen vor mir. Verwirrt schaute ich neben mich. Colin saß wieder auf der Bank. Seine Haare trockneten bereits. Seine Haut verströmte einen zarten, aber dennoch markanten Geruch, der mich magisch anzog. Mein Kopf wurde schwer.
»Zieh gefälligst das Hemd an«, bat ich ihn mit belegter Stimme. »Bitte. Irgendwas passiert hier gerade.«
»Es ist mein Hunger«, sagte er frustriert. »Für die Menschen riecht er gut. Das erleichtert das Jagen. Entschuldige.«
Er ging ins Haus und kam mit einem weichen Fleecepullover zu rück. Einem grauen Fleecepullover. Dem aus meinem Traum. Es gab ihn wirklich. Doch er roch beruhigend nach ganz normalem Waschmittel. Für eine Weile würde das helfen. Colin fuhr sich mit beiden Händen durch sein knisterndes Haar und band es im Nacken zusammen. Auch das sah schön aus. Schön und
Weitere Kostenlose Bücher