Splitterherz
Morgen graute.
Den ersten Schultag überstand ich nur, weil ich mich zweiteilte. Ein Teil von mir machte halbseidene Witze mit Benni, gab ihm die Handynummern von Nicole und Jenny und lauschte Maikes uninteressanten Geschichten vom Campingurlaub in Holland. Anscheinend hatte sie vergessen, dass wir uns entzweit hatten. Der andere Teil von mir litt still vor sich hin oder fürchtete sich vor der Spinne im Einmachglas, das ab und zu mahnend im Rucksack klapperte.
Mein Stundenplan für das neue Schuljahr war eine Zumutung. Gleich heute, an diesem langatmigen Montag, hatte ich zehn Stunden zu bewältigen - davon die letzten beiden Biologie. Das wiederum kam mir gelegen. So konnte ich nach Schulschluss ungestört meinen Lehrer um Rat fragen. Bis dahin würden die Spinne und ich durchhalten müssen.
In der Mittagspause rief ich Mama an und sagte, dass es später werden würde. Sie selbst hatte sich für einen Kurs im nahe gelegenen Yogazentrum angemeldet. Deshalb bat sie mich, in Rieddorf etwas zu Abend zu essen. Auch das war mir recht. Denn die wortkargen, traurigen Mahlzeiten mit Mama zehrten an mir. Irgendwie wollten und konnten wir nicht miteinander reden. Und doch saßen wir im gleichen Boot. Wir kamen mit unseren missratenen Männern nicht klar.
Ich konnte es kaum erwarten, bis endlich die Klingel ertönte und auch die zehnte Stunde verstrichen war. Während meine Kurskameraden erleichtert nach draußen eilten, wo wieder ein neuer Regenguss vom grauen Himmel peitschte, drückte ich mich scheu um das Pult herum. Hinten im Labor hörte ich meinen Lehrer mit den Reagenzgläsern und Petrischalen hantieren, die wir im Unterricht präpariert hatten.
»Herr Schütz?«, rief ich schüchtern.
»Komm ruhig rein, Elisabeth«, antwortete er freundlich. Ja, auch deshalb mochte ich ihn. Weil er auf das alberne »Sie« verzichtete, mit denen mich viele andere Lehrer ansprachen.
Ich musste ein Skelett zur Seite schieben und einen ausgestopften Bären umrunden, bis ich ihn fand. Mit der Lesebrille auf der Nase beschriftete er ein paar Etiketten.
»Was gibt’s?«, fragte er, ohne aufzusehen.
Wortlos holte ich das Einmachglas aus dem Rucksack und stellte es auf seinen winzigen Tisch. Er stutzte und schob sofort die Petrischalen und Etiketten zur Seite. Dann stieß er einen Pfiff aus - Verwunderung und Begeisterung zugleich.
»Wo hast du die denn her? Sic hat dich doch nicht etwa gebissen?« Besorgt musterte er mich, um dann gleich wieder die Spinne ins Visier zu nehmen.
»Nein. Sie hat sich von meiner Zimmerdecke fallen lassen. Können Sie mir sagen, um was für eine Spinne es sich handelt?«
Er drehte das Glas schweigend hin und her. Die Spinne spreizte gereizt die Beine und stemmte sich gegen den Deckel. Mit gerunzelten Brauen blickte Herr Schütz mich an.
»Von der Zimmerdecke, sagst du?«
Ich nickte. So war es schließlich gewesen. Er schüttelte ungläubig den Kopf. Dann sah er mich wieder an, mit passioniertem Forschergeist in seinen blassgrauen Augen. Ich hatte ihm offenbar den Abend gerettet.
»Es ist eine Witwe. Ein Weibchen. Möglicherweise sogar die Schwarze Witwe. Wahrscheinlich aber eine Falsche Witwe. Denn sie ist nicht rabenschwarz. Das ändert aber nichts an ihrer Giftigkeit. Ihr Gift ist durchaus potent.«
Eine Schwarze Witwe. Eine der giftigsten Spinnen überhaupt. Ich lehnte mich an den Laborschrank, ungeachtet der Scheußlichkeiten, die darin ruhten. Schneeweiße, blutleere Frösche in Alkohol, ein Affenembryo und Innereien in den verschiedensten Ausführungen.
»Wo leben Witwen? Doch nicht hier bei uns, oder?«, fragte ich.
»Die echte gibt es nur auf dem amerikanischen Kontinent. Die falsche in Süditalien und Istrien. Habt ihr vielleicht Südfrüchte eingekauft? Irgendetwas Importiertes?«
Ich überlegte. Ja, Mama kaufte immer wieder exotisches Obst und Orangen, sogar im Sommer. Ihr Vitamin-C-Tick. Trotzdem konnte ich es nicht mit Sicherheit sagen. Ich nickte dennoch.
»Wir sollten das melden. Und sie an ein Tropeninstitut verschicken«, murmelte Herr Schütz nachdenklich.
»Nein! Nein, bitte nicht«, rief ich schnell. Erstaunt schaute er mich an.
»Ich, ähm, ich möchte sie behalten. Und beobachten«, stotterte ich und konnte nicht glauben, was ich da sagte. »Vielleicht kann ich ja ein Referat über sie schreiben.«
Na, das fing ja gut an. Der erste Schultag war gerade erst vorüber und ich meldete mich schon für ein Referat. Vielleicht war aber
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