Splitterherz
Unterlippe, um nicht zu weinen.
»Jetzt warten wir«, seufzte Mama, nahm ihren Koffer und ging mit schleppenden Schrillen in ihr Schlafzimmer.
Wie im Nebel zogen die Ferien an mir vorüber. Von Papa gab es keine Nachricht. Von Colin gab es keine Nachricht. Und auch von Tillmann gab es keine Nachricht.
Ich kämpfte mich grübelnd durch den Tag und schaute mit leeren Augen dabei zu, wie der Sommer gegen den Herbst verlor. Jeden Morgen berichteten sie im Radio, dass es ein schöner, angenehmer Tag werden würde, doch spätestens am frühen Nachmittag zogen dunkle Wolken heran und die ersten Schauer gingen nieder. Überall im Land schien Sommer zu herrschen - nur nicht bei uns. Die Nächte wurden empfindlich kühl und einige Male schaltete Mama sogar die Heizung an. Es war der unberechenbarste August, den ich je erlebt hatte, ein ständiger Wechsel aus erdrückender Schwüle und frostigen Güssen. Selbst in den Fjorden war es angenehmer gewesen. Trotzdem lief ich jeden Nachmittag wie getrieben durch den Wald, ließ mich vom Regen bis auf die Haut durchnässen und hoffte manchmal, der Bach würde wieder zur reißenden Flut anschwellen und mich verschlingen.
Doch Abend für Abend kehrte ich heil nach Hause zurück, um zusammen mit Mama schweigend und hoffend zu essen. Ich aß, weil ich essen musste, aber nichts schmeckte mehr.
Diesmal war ich zu stolz, um Colin erneut aufzusuchen und ihn zur Rede zu stellen. Er hatte mich erniedrigt. Immer wenn ich daran dachte, wie ich weinend und nackt vor ihm im Gras gestanden hatte, überkam mich ein so elendiger Zorn und eine so vernichtende Scham, dass ich den Tag verfluchte, an dem ich ihm das erste Mal begegnet war.
Und gleichzeitig sehnte ich ihn mir herbei und hätte alles dafür gegeben, diesen Sommer noch einmal zu erleben. Bis zu dem Punkt, an dem ich meine Klappe nicht hatte halten können und Colin meine Gefühle gestand. Nie wieder würde ich das tun. Nie.
Nicht bei ihm und auch bei keinem anderen Mann.
Altweibersommer
Witwenterror
Als die Schule wieder anfing, war Papa immer noch nicht zurück. Auf dem Handy konnten wir ihn nicht erreichen. Nicht einmal die Mailbox sprang an. Es war stets der gleiche Satz zu hören: »Der gewünschte Teilnehmer ist im Moment nicht erreichbar. Bitte versuchen Sic es ein anderes Mal.«
Ich wusste ja inzwischen um die Eigenheiten der Traumräuber, Handynetze außer Kraft zu setzen, und ahnte, was es bedeutete, dass wir Papa nicht an die Strippe bekamen. Er war von Mahren umgehen. Er hatte Kontakt mit ihnen.
Mama verdrängte ihre Sorgen, indem sie versuchte, im Garten zu retten, was zu retten war. Seitdem sie wieder ihren grünen Daumen walten ließ, sprossen ihre Blumen, Gräser und Sträucher, als ginge es um ihr Leben. Gleichzeitig brachte der ständige Regen Krankheiten und Verfall. Jeden Morgen drückten neue wabbelige Pilze ihre dicken Köpfe durch den Rasen und die Rosenblätter waren von braungelben Sprenkeln überzogen. Die Himbeerstämme verfaulten. Die ersten Äpfel fielen mit einem dumpfen Geräusch ins nasse Gras, klein und unreif, aber bereits zerstört von Würmern und Milben.
Wenn die Sonne sich für einige Stunden durchsetzen konnte, sprangen im ganzen Dorf synchron die Rasenmäher an und jeder versuchte, dem wuchernden Unkraut Herr zu werden. Selbst Mama kämpfte sich schwitzend durch die dunkelgrüne Wiese. Bei jedem Schritt gab das Gras nach wie ein vollgesogener Schwamm.
Am Abend vor dem ersten Schultag saß ich am Fenster und hoffte, Mister X würde auftauchen. Doch er blieb fern. Ich musste alleine in den Schlaf finden. Einige Male war er da gewesen, meistens nachmittags, ohne Halsband, ohne Nachricht, aber mit einem deutlich gesteigerten Liebesbedürfnis. Ich bildete mir nichts darauf ein. Das war schließlich normal bei frisch kastrierten Katern. Eine Form der Kompensation vermutlich.
Trotzdem tröstete es ungemein, ihn bei mir zu haben. Ich legte mich dann längs aufs Bett und er baute sich schnurrend und tretelnd ein gemütliches Nest zwischen meinen Waden, rollte sich zusammen und schlief den Schlaf der Gerechten. Das waren die Minuten, in denen die Welt einigermaßen erträglich war.
Ganz und gar unerträglich waren meine Träume geworden. Konfus, wirr und absolut surreal. Kein Nachtmahr dieser Welt würde solch wahnsinnige Träume freiwillig rauben wollen. In der letzten Nacht hatte ich geheiratet; wen, wusste ich nicht, aber das war auch herzlich egal gewesen.
Weitere Kostenlose Bücher