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Splitterherz

Titel: Splitterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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weiß, wo ich zwi­schendurch trinken kann, um Kraft zu tanken.
    Aber wahrscheinlich - sehr wahrscheinlich - werde ich verlieren. Spätestens nach drei, vier Tagen. Sic wird mich entweder töten, vor lauter Wut und Zorn, weil ich sie angreife. Oder sie wird sofort die Metamorphose vollenden, ohne sich überhaupt auf einen Kampf ein­zulassen. Und dann ist nichts Menschliches mehr an mir. Wenn Du zu diesem Zeitpunkt noch hier sein solltest - falls Du Dich vor Tessa über­haupt verbergen kannst und ihr entkommst -, dann wirst Du die Erste sein, die wir anfallen. Tessa liebt gemeinsame Festmahle.
    Deshalb: Flieh jetzt. Solange es noch hell ist. Ist es denn noch hell? Oh Ellie, ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass sie Dir etwas antut. Ich weiß nicht, wie Tessa sich Menschenfrauen gegenüber ver­hält. Ich habe es nie erlebt. Doch ich kann mir kaum vorstellen, dass sie Dich gehen lässt. Sie ist nicht interessiert an Deinen Träumen. Das nicht. Sie frisst nur in der Not weibliche Träume. Aber Du bist ihre Rivalin. Und so dumm sie auch ist - das wird ihr nicht entgehen. Tessa ist skrupellos. Sie zögert nicht lange, wenn ihr jemand im Weg steht.
    Vielleicht hast Du Louis gesehen. Ich habe ihn absichtlich hiergelas­sen. Um im Kampf stark zu sein, darf ich nicht zu menschlich fühlen. Schöne Gefühle schwächen mich , wenn sie aus mir selbst kommen. Je­des ehrliche, schöne Gefühl kostet mich Energie. Deshalb musste ich oft ruhen, bevor oder nachdem Du mich aufgesucht hast, und bekam schneller wieder Hunger, als wenn ich allein war.
    Louis hat genügend Futter in seiner Krippe und ich habe das Gatter so geschlossen, dass er fliehen kann, wenn ich nicht mehr zurückkehre. Louis kann sich eine Weile durchschlagen. Erfindet im Wald Nahrung und Wasser. Aber falls Du in der nächsten Zeit von einem entlaufenen Pferd hörst oder liest, dann sorge bitte dafür, dass er einen guten Platz bekommt und nicht beim Schlachter landet, so garstig er sich auch benimmt. Besuch ihn ab und zu und erzähle ihm von mir.«
    Ich musste den Brief kurz weglegen, weil weitere Tränen ihn zu zer­stören drohten. Es musste ihm das Herz zerrissen haben. Er hatte Louis zurückgelassen. Seinen Louis.
    »Es hat Dir nicht gefallen, als ich sagte, dass ich sterben will. Aber die­ser Wunsch hat mir meine Entscheidung erleichtert. Ich hoffe nur, dass Tessa mich tötet und nicht verwandelt. Dass ich sie so zornig machen kann, dass sie ihre eigentlichen Absichten vergisst.
    Ich habe so viele Leben geführt, so viele Namen getragen. Und  immer wieder musste ich alles stehen und liegen lassen, um zu fliehen. Als ich hierherkam, in den Wald, habe ich meinen alten Namen wie­der angenommen. Colin Jeremiah Blackburn. Ein schottischer Aller­weltsname, doch ich hänge an ihm. Vielleicht, weil ich nie ein Aller­weltsmann war. Er sollte mein erster und mein letzter Name sein. Louis sollte mein letztes Pferd sein.
    Und Du bist nicht meine erste Liebe, aber Du wirst die letzte sein. Und diejenige, bei der ich immer das Gefühl hatte, nichts, was ich sa­gen oder tun könnte, würde Dich vertreiben. Du hast nicht den Men­schen in mir gesucht. Ich glaube sogar, Du hast den Mahr in mir ge­liebt. Und es ist wenig Mensch an und in mir, Ellie, sosehr ich mich auch bemühe. Vor allem aber bist Du die Erste, der es gelang, mich Tessa vergessen zu lassen. Dafür liebe ich Dich und dafür verfluche ich Dich. Aber es war heilsam, sie zu vergessen, es fühlte sich fast an wie Glück - und lieber sterbe ich nach einem Leben, in dem Tessa für ein paar wenige Augenblicke keine Macht über mich hatte, als ein sicheres und ewiges Dasein in ihrem Schatten zu fristen.
    Außerdem: Was für eine Zukunft hätten wir gehabt? Ich bleibe zwanzig, ob ich will oder nicht. Und ich kann keine Kinder zeugen. Irgendwann wirst Du ein Baby haben wollen und ein normales Leben führen. Ich weiß zwar nicht, wie das bei Dir funktionieren soll, aber es wird kommen. Dann kannst Du jemanden wie mich nicht gebrauchen.
    Ich sollte noch ein wenig ruhen, bevor sie so nahe ist, dass ich mich auf den Weg machen muss.
    Auch wenn es unser Verhängnis werden sollte: Es war schön mit Dir. Ich bereue nichts. Ich bin gespannt, wie es sein wird zu sterben.
    Colin.«
    »Oh Colin. Du Riesenarsch mit Ohren«, schluchzte ich und zer­knüllte den Brief, um ihn sofort wieder flachzustreichen und ein weiteres Mal zu lesen. Gut. Der Herr wollte also sterben.
    Aber ich hatte es nicht so mit der Melodramatik.

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