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Splitterherz

Titel: Splitterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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konnte. Nein, es waren kurze, erbarmungslose Horrorszenarien. Meistens gingen sie nahtlos in lähmende Wachträume über, die ich nur mit dem grellen Licht meiner Nachttischlampe vertreiben konnte. Einmal stand der Tod neben meinem Bett, in einem langen schwarzen Gewand und mit einer Sense auf dem Rücken. Und immer wieder musste ich meine verwesenden Gliedmaßen oder meinen toten Kopf, an dem blutiges Haar klebte, wegschaffen. Wohin, wusste ich nicht. Aber ich musste es tun.
    Eine Woche nach Colins und meinem Abschied veränderte sich das Verhalten der Spinne. Mein Referat hatte sich zur Sisyphosarbeit gemausert. In all den Spinnenbüchern, die Herr Schütz mir ausgeliehen hatte, stand nichts, was ich für meine Spinne gebrauchen konnte. Schon dass sie sich von der Decke hatte fallen lassen, war untypisch für eine Witwe. Nur an einer Sache hegte ich keine Zweifel: Es war ein Weibchen. Die Männchen waren unscheinbar und kleiner. Herr Schütz stellte die vage Theorie auf, dass die Spinne durch ihre unfreiwillige Reise in einer Südfruchtkiste in ihrem  na­türlichen Verhalten gestört worden war, doch er glaubte selbst nicht recht daran.
    Jetzt aber saß ich mit Gänsehaut im Nacken vor dem Terrarium und wusste nicht mehr weiter. Die Spinne war wieder mehrere Male gegen das Glas gesprungen. Schon in den Morgenstunden hatte sie mich damit geweckt. Hunger als Grund schied aus. Sie hatte am Tag vorher drei ausgewachsene Grillen eingesponnen und verzehrt. Das Merkwürdige war nur, dass sie kaum wuchs. Es war mir zwar recht, denn sie war mir wahrhaftig groß genug. Doch eigentlich hätte sie zunehmen müssen.
    Irgendwann hatte sie mit dem Springen aufgehört. Ein paar Mi­nuten lang hockte sie wie erstarrt am Deckel des Terrariums, als würde sie über eine neue Methode nachdenken, ihr Gefängnis zu sprengen.
    Dann fing sie urplötzlich an, am ganzen Körper zu beben. In mei­nen Ohren surrte es, als ich ihr schaudernd dabei zusah. Das Surren wurde nicht lauter, aber intensiver. Selbst wenn ich in die entlegens­te Zimmerecke ging, konnte ich es noch wahrnehmen, als wäre es in meinem Kopf. Unentwegt zitterte die Spinne vor sich hin und mei­ne Abscheu wuchs ins Unermessliche.
    Nein. Es war genug. Dieses Tier wollte ich hier nicht mehr haben. Biologie stand heute nicht auf dem Stundenplan, aber ich würde sie mit in die Schule nehmen und Herrn Schütz in die Hand drü­cken. Sollte er sich mit ihr auseinandersetzen. Ich ertrug sie nicht mehr.
    Das Surren hielt an. Niemand schien es zu hören außer mir. Doch ich bekam Kopfschmerzen davon, ein helles, stechendes Pochen in der Schläfe, das sich unaufhörlich ausbreitete und den Nacken hi­nunter in meine rechte Schulter wanderte. Wenn ich an die Tafel schaute, vibrierten die Buchstaben und Formeln vor meinen Augen. Das Sonnenlicht kam mir so hell vor, dass ich mir einen kräftigen
    Regenguss herbeiwünschte und froh war, wenn der Himmel sich zwischendurch verdunkelte.
    Nach der achten Stunde lief ich sofort ins Biologielabor. Herr Schütz saß wieder hinter dem Bären an seinem kleinen, klapprigen Tischchen und spießte einen blaugrauen Falter auf, um ihn dann hinter Glas zu verfrachten.
    Ich stellte ihm den Tornister mit dem Terrarium hin, als enthalte er hochansteckende Krankheitskeime.
    »Sie benimmt sich seltsam«, sagte ich und konnte nicht verhin­dern, dass ich ängstlich klang. »Ich weiß nicht, was sie hat.«
    Herr Schütz legte den aufgespießten Falter in eine Schublade und schaute mich prüfend an.
    »Ist alles in Ordnung, Elisabeth? Du siehst blass aus. Du warst schon gestern so still im Unterricht.«
    »Nein«, antwortete ich leise. »Nichts ist in Ordnung.« Ich wollte und konnte ihn nicht anlügen. Ebenso wenig konnte ich ihm sagen, was mich bedrückte. »Aber es - es geht schon.«
    »Kann ich dir irgendwie helfen?« Er nahm seine Lesebrille ab. Auch er sah müde aus. Wie alt mochte er sein? Er gehörte jedenfalls nicht mehr zu den Jungspunden unter den Lehrern. Die fünfzig hatte er sicherlich schon überschritten.
    Ich schüttelte den Kopf und versuchte mich an einem Lächeln. »Danke, aber - nein, das können Sie wohl nicht. Sagen Sie mir ein­fach, was mit der Spinne los ist.«
    »Na, dann schauen wir uns das Schätzchen mal an«, brummte er geschäftig und öffnete den Deckel. Die Spinne zitterte immer noch. Sie sah nicht krank oder schwächlich aus, sondern gewaltbereit. Das Surren in meinem Kopf wurde so stark, dass ich kurz beide Hände auf die

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