Splitterherz
pulsierte so stark, dass mir beinahe übel wurde. Ich nahm den Kopf zwischen die Knie und wartete, bis mein Kreislauf sich einigermaßen stabilisiert hatte.
Die Nachmittagssonne brach durch die tief hängenden Wolken. Ich kniff die Augen zusammen und erinnerte mich sehnsüchtig an Colins dämmriges Schlafzimmer, an das große Bett mit dem samtroten Überwurf, unter dem wir die Nacht verbracht hatten, als Tessa noch in weiter Ferne war. Vielleicht roch es nach ihm. Ich hatte nie genau sagen können, was Colins Geruch eigentlich ausmachte. Es war ein völlig diffuser, süchtig machender Geruch. Manchmal dachte ich, dass schöne Erinnerungen so duften müssten. Ein Parfüm aus alldem, was ich bisher an guten Dingen erleben durfte.
Ich kehrte ins Haus zurück und lief mit tauben Beinen nach oben. Wenn nur das Surren endlich aufhören würde. Im Schlafzimmer stürzte ich auf das Bett, als sei es eine rettende Planke im tosenden Meer. Schwer drückte ich mein Gesicht auf das graue Kissen. Ein leises Knistern mischte sich in das penetrante Summen - das Knistern von Papier. Angestrengt hob ich den Kopf und griff unter das Kissen. Es war ein Briefumschlag, ohne Absender, ohne Adresse. Ich öffnete ihn und zog den schweren, gefalteten Büttenbogen heraus. Tränen traten mir in die Augen, als ich Colins Schrift erkannte.
»Meine liebe, störrische Ellie,
wenn meine Ahnung eintrifft und diese Worte lebendig werden, weil Du sie liest, dann hast Du wieder nicht auf mich gehört. Du bist das sturste Frauenzimmer, das mir jemals begegnet ist. Und ich bitte Dich nun ein allerletztes Mal: Verschwinde. Nein, ich befehle es Dir. Steck den Brief in Deine Hosentasche und lauf, so schnell Du kannst.
Bleib bei Deinen Eltern, am besten nah bei Deinem Vater, und wage Dich für ein, zwei Wochen nicht aus dem Haus.
Ich kann sie spüren. Sie nähert sich. Lass Dir etwas einfallen, warum Du in der Schule fehlst. Du bist klug, Du holst das locker wieder auf.
Aber bitte, bitte rette Dein Leben.
Okay. Du bist also noch hier. Du hörst immer noch nicht auf mich.«
»Ach, Colin«, flüsterte ich und eine Träne fiel auf den Briefbogen. Sofort bildete die Tinte einen kleinen blauen See und die ersten Zeilen wurden unleserlich. Hastig wischte ich mir über das Gesicht, schluckte und las weiter.
»Dann komme ich nicht umhin, Dir mitzuteilen, was nun passieren wird oder kann. Danach wirst Du endlich einsehen, dass Du hier nichts mehr verloren hast.
Ich möchte nicht mehr fliehen. Ich habe es satt, vor Tessa zu fliehen, mich ihrer Gier zu unterwerfen oder sie gar zu fürchten. Ich werde mich ihr stellen.
Du hast einmal gefragt, ob wir denn gar nicht sterben können. Doch, das können wir - ich habe jedenfalls davon gehört. Es gibt zwei Möglichkeiten, von denen man sich erzählt. Die eine scheidet in meinem Fall aus; insofern möchte ich keine Zeit damit verschwenden. Die andere besteht im Kampf Mahr gegen Mahr. Menschen können uns nicht töten. Aber es heißt, dass wir uns im Kampf gegenseitig töten können.
Ein ungleicher Kampf, wenn wie bei Tessa und mir ein Altersunterschied von gut 500 Jahren besteht. Je älter, desto stärker. Das ist nun mal so. Was die Magie betrifft, ist sie mir überlegen. Was die menschlichen Fertigkeiten betrifft, bin ich ihr überlegen.
Ich bin in guter Verfassung. Der Wolf hat mich etliche Male trinken lassen. Ich habe so viel Kraft gesammelt, wie ich konnte. Und ich habe mich tief in den Wald zurückgezogen. Ich bin nicht weit weg von Dir, Ellie. Und doch würdest Du mich nicht finden, weil ich mich oben aufhalte, in den Baumwipfeln.
Tessa ist einfältig. Sie wird als Erstes der stärksten Spur folgen - dorthin, wo ich Glück empfunden habe. An den Bach, wo wir gebadet haben. (Du hast einen überaus niedlichen Hintern, Lassie - nein, hasse es nicht, Lassie ist schottisch und bedeutet >Mädchen<. Und Du bist mein Mädchen.) Dann wird Tessa das Haus erreichen. Dort riecht es überall nach mir. Und nach den schönen Tagträumereien, in denen ich mich verlor, wenn ich mich in Deine Seele verbissen hatte.
Aber ich werde nicht da sein. Sie wird weitersuchen - und mich schließlich finden. Daran habe ich keinen Zweifel. Sie findet mich.
Ich glaube nicht, dass es passiert - aber vielleicht habe ich eine winzige Chance, dass ich ihr wenigstens einige Tage widerstehen kann, wenn ich ihr von oben auflauere. Dass sie mich nicht sofort bekommt. Ich kenne den Wald wie meine Westentasche und ich
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