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Splitterherz

Titel: Splitterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Würgen zu unterdrü­cken. Vor allem aber musste ich ein möglichst freundliches, unver­bindliches Gesicht aufsetzen. Ich zwang meine Mundwinkel nach oben und hoffte, dass sie mich verstehen würde.
    »Guten Abend. Kann ich Ihnen helfen?«
    Sie antwortete nicht. Ich wartete, einen Atemzug lang, zwei Atem­züge, bis ich registrierte, dass ich die Einzige war, die atmete. Dieses Wesen vor mir lebte, ich konnte es riechen und fühlen. Doch es at­mete nicht. Es war hungrig.
    Wieder bewegten sich ihre Rockschöße und zeichneten Schlieren in den weichen Sand vor Colins Eingang.
    »Verstehen Sie mich?«, fragte ich etwas lauter.
    Meine Gesichtsmuskeln verkrampften sich. Das Surren in mei­nem Kopf zerrte erbarmungslos an meiner Schläfe und ließ meine Stirnader heiß pulsieren. Die Schmerzen drohten mich in die Knie sacken zu lassen. Mit der linken, vor Tessa verborgenen Hand  klam­merte ich mich am Türrahmen fest, um nicht ohnmächtig zu wer­den.
    Noch immer zeigte sie keinerlei Reaktion. Und ich war im Nachteil, wenn ich weiterhin nach unten schaute, auf diese mädchenhaf­ten Füße in ihren verschnürten Puppenschuhen. Langsam ließ ich meinen Blick nach oben wandern, über den zerschlissenen, motten­zerfressenen Samt ihres schweren Umhangs, die vergilbten Spitzen an ihren Ärmeln, aus denen ihre kleinen, in Lederhandschuhe ver­packten Hände herausschauten - sie hielt sie vor dem Bauch gefal­tet, als würde sie beten -, ihr fast schon obszönes Meer an roten Schlangenhaaren bis hoch zu ihrem mit Ketten behängten Hals und ihrem Gesicht. Spinnen, Kellerschaben und Zecken wimmelten zu Hunderten in ihren Haaren.
    Sie sah durch mich hindurch. Irritiert hob ich die Hand, um auf mich aufmerksam zu machen, und suchte ihren Blick. Doch sie stand wie eine Blinde vor mir, ihre Augen auf etwas gerichtet, was hinter mir war - oder irgendwo in ihrem Geist. Verblüfft und ange­widert musterte ich ihr Gesicht. Ein rundes Gesicht mit spitzem Kinn und einer hohen Prinzessinnenstirn, gekrönt von einem pfeilförmigen Haaransatz. Ihre Haut war teigig und totenbleich. Die schmalen Lippen hatte sie mit dunkelrotem Lippenstift eingeschmiert. Nein, es sah eher aus wie eine erdige, selbst zusammenge­mischte Paste, die krümelig in den Mundwinkeln klebte. Ihre Stups­nase endete in zwei absurd großen Nasenlöchern, die sich witternd weiteten und in denen feine rote Härchen wogten.
    Waren es etwa ihre Augen gewesen, die Colin willenlos gemacht hatten? Große, schlüpfrig wassergrüne Augen mit nur stecknadelkopfgroßen Pupillen und rostroten Wimpern, über denen sich ge­bogene Augenbrauen erhoben, die dämonisch und unschuldig zugleich wirkten. Alles in allem eine fatale Mischung aus Mädchen und Bestie. Aber bestimmt keine Filmschönheit.
    Doch Tessa nahm mich immer noch nicht wahr. Nun spitzte sie ihre verschmierten Lippen und ein verzückter Ausdruck trat in ihr Puppengesicht. Mit einem leisen Gurren ruckte sie ihren Kopf zur Seite. Erschrocken wich ich zurück, als sie sich jäh auf mich zu­bewegte.
    Ich konnte nicht verhindern, dass ihr Umhang mich streifte. Schnell griff ich nach dem Kragen meiner Strickjacke und presste ihn gegen meine Nase, um Tessas Geruch nicht einatmen zu müs­sen.
    An mir vorbei trippelte sie in Colins Küche und dann hinüber ins Wohnzimmer. Erneut gurrte sie und hob schnüffelnd den Kopf. Dann löste sie ihre gefalteten Hände, streifte blitzschnell die Hand­schuhe ab und ließ sie auf den Boden fallen. Der samtige Pelz auf ihren Handrücken richtete sich augenblicklich auf. Mit einem keh­ligen, lustvollen Stöhnen breitete sie die Arme aus und drehte sich wie eine Balletttänzerin einmal um sich selbst.
    Ich wollte sie ein weiteres Mal ansprechen, um endlich ihre Auf­merksamkeit zu erregen, doch ein schwarzer Schatten neben mir lenkte mich ab. Mister X war vom Kaminsims gesprungen und be­wegte sich seitwärts auf Tessa zu, den Schwanz zu einer gigantischen Flaschenbürste geplustert und den Nacken gesträubt. In Zeitlupe näherte er sich ihr und knurrte dumpf - ein Knurren, das rasch in ein angriffslustiges Fauchen überging. Doch Tessa ignorierte ihn. Mister X hielt verstört inne und verkroch sich jaulend unter der Küchenanrichte.
    »Suchen Sie etwas Bestimmtes?«, fragte ich laut und stellte fest, dass meine Wortmeldungen immer dämlicher wurden. Zudem war meine Frage überflüssig. Ich wusste, was sie suchte.
    Mit gespreizten Fingern fuhr Tessa über die Fotos auf dem Ka­minsims. In

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