Splitterherz
auch bald dazugehören.
Als ich abends mit meinen Eltern in der Gaststube saß, verfolgten mich die Verurteilungen der Mädchen immer noch. Wirkte ich tatsächlich so arrogant und verkrampft?
»Hey, Elisa - aufwachen! Und, was möchtest du essen?« Papas tiefe, warme Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Ich hatte auf meine Karte gestarrt, ohne auch nur eine Zeile zu lesen. Vor uns stand die Kellnerin und blickte uns fragend an. Wieder hatte ich das Gefühl, im falschen Film festzustecken. Hinter Mama hing ein riesiger Eberkopf mit wütenden kleinen Augen an der holzgetäfelten Wand, umkreist von zierlichen Rehgeweihen. Ich kam mir vor wie im Skiurlaub - nur war das kein Urlaub. Das war mein Leben. Und diese Stube war keine Kulisse, sondern das einzige Restaurant in Gehweite.
In Köln hatten wir allein zehn Restaurants rund um den Block gehabt und keines hätte gewagt, einen ausgestopften Wildschweinschädel an die Wand zu nageln.
»Äh - was nimmst du denn?«, fragte ich Papa.
»Ein Westerwälder Rumpsteak. Englisch, bitte. Blutig«, fügte er erläuternd hinzu. Ich unterdrückte ein Grinsen. Also traute auch er den Holzmicheln hier nicht über den Weg.
»Gut, das nehme ich auch - aber bitte medium. Nicht blutig. Mit Pommes.«
Mama und Papa musterten mich erstaunt. Aber ich hatte Appetit auf ein Stück Fleisch, nachdem ich tagelang nur sporadisch und unlustig gegessen hatte.
Bis unsere Bestellungen kamen, versuchten Mama und Papa, mir das Leben auf dem Land einmal mehr schmackhaft zu machen. Nach einem kurzen Schwatz mit dem Wirt kehrte Papa mit einem Stapel Broschüren zurück - Tourismusprospekten, Wanderkarten (nein danke, das hatte ich schon) und einem Vereinsprogramm. Einem deprimierenden Vereinsprogramm. Es gab einen Fußballklub (ach), einen Schützenverein (niemals) und einen Karateklub in Rieddorf.
»Guck mal, die haben Schnupperstunden. Selbstverteidigung für Mädchen und Frauen«, sagte Mama und blätterte mit einer Andacht in den zerknitterten Schwarz-Weiß-Kopien, als hätte sie es mit einer uralten, wertvollen Handschrift zu tun.
»Oh, bitte«, stöhnte ich. »Das ist nix für mich.«
»Du hast doch gesagt, du wolltest wieder Sport machen«, erinnerte Papa mich.
»Nein, das hast du gesagt. Ich bestimmt nicht. Wird das jetzt ein Verhör?« Ich fühlte mich in die Enge getrieben. Gerade hatte ich mich ein wenig entspannen können und jetzt redeten sie mit mir, als wäre ich elf. Wir schwiegen uns einige Minuten lang an.
»Es war nur eine Idee«, sagte Papa schließlich beschwichtigend.
»Ach, Papa, du weißt doch selbst ganz genau, dass das nichts wird«, seufzte ich. »Das klappt einfach nicht. Außerdem machst du ja auch keinen Sport. Und Mama auch nicht. Und in einem Verein seid ihr erst recht nicht.«
»Ich mache Yoga«, erinnerte Mama mich vorwurfsvoll.
»Das ist kein Sport«, erwiderte ich. »Das ist Hausfrauenbelustigung.« Papa grinste. Wir wussten beide, dass es Mama auf die Palme brachte, wenn wir so etwas sagten. Und deshalb taten wir es immer wieder gerne.
»So?«, fragte Mama und feixte zurück. »Dann frag doch mal die Hausfrau da vorne, ob sie das kann.« Sie zog ihre Unterschenkel über die Knie, verhakte ihre Füße ineinander und verschränkte die Arme mit den Handflächen nach außen auf ihrem Rücken. Ich bekam Schmerzen, wenn ich nur dabei zusah. Die grün gewandeten Männer am Tisch nebenan unterbrachen ihr Gespräch und blickten rätselnd zu uns herüber. Nur besagte Hausfrau pickte weiter Gräten aus ihrer gebratenen Forelle.
»Mensch, Mama«, flüsterte ich und versuchte unauffällig, ihre Arme und Beine zu entwirren, da ich die Bedienung näher kommen sah. Aber sie lachte nur.
Wir aßen wie immer schweigend. Papa verdrehte genüsslich die
Augen, als der Fleischsaft in roten Schlieren aus seinem Steak lief. Die Jägersleute neben uns leerten ihre Biere in Rekordgeschwindigkeit und kloppten dabei lauthals Skat. Sie grüßten uns mit einem knappen Kopfnicken, als wir gingen - jeder im Restaurant grüßte uns, doch keiner fing ein Gespräch mit uns an.
Es hatte aufgeklart. Über uns breitete sich ein gigantischer Sternenhimmel aus. Einige Sekunden lang schauten wir stumm nach oben. So etwas hatte ich seit Jahren nicht mehr gesehen.
»Schön«, hauchte Mama andächtig und wickelte sich den Schal fester um den Hals. Auf halber Strecke zum Haus blieb Papa plötzlich stehen und griff sich mit verzerrtem Gesicht an die Stirn.
»Eine Aura?«,
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